Verweigerung gegen das „Soldatenvolk“

In der Türkei organisieren sich die Kriegsdienstverweigerer / „Ohne Armee kann es auch keinen Militärputsch mehr geben“ / Noch immer macht erst der Militärdienst den Türken zum Mann / Den „Vaterlandsverrätern“ droht Gefängnis / Viele linke Gruppen belächeln die KDVler  ■  Aus Ankara Ömer Erzeren

„Wir brauchen noch mehr Publicity. Wie können wir erreichen, daß unsere Kampagne 'Nein zum Kriegsdienst‘ stärker wird? Sollen wir auf einer Kundgebung Soldatenuniformen verbrennen? Sollen wir Kasernen überfallen? Sollen wir lauthals in den Straßen rufen: 'Wir wollen nicht im Osten fallen?'“ Die 40 jungen Männer, die in den verrauchten Büroräumen der Grünen eine Initiative gegen den Kriegsdienst gründen, sprechen Ungeheuerliches aus. Kriegsdienstverweigerung: in der Türkei ein Verbrechen par excellence.

Der 32jährige Arzt Tayfun Gönül hatte in dem alternativen Wochenblatt 'Sokak‘ („Die Gasse“) mit einem Manifest die Debatte eröffnet. Erstmalig in der Türkei erklärte ein Mann kurz und bündig: „Ich werde nicht zum Militär gehen!“ Unerhörte Begriffe aus einer fremden Welt wurden dem türkischen Leser zugemutet. Von Gewissensentscheidung, vom Recht auf Widerstand war da die Rede. Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten. 'Sokak‘ und die Tageszeitung 'Günes‘, die Gespräche mit Kriegsdienstverweigerern druckte, wurden beschlagnahmt. Vor dem Staatssicherheitsgericht - zuständig für Verbrechen gegen den Staat - wurden die Kriegsdienstverweigerer Tayfun Gönül und Vedat Zencir angeklagt. Den „Vaterlandsverrätern“, so ihre Bezeichnung in der rechten Presse, drohen zwei Jahre Gefängnis wegen „Aufhetzung“. Doch das Ausmaß der Solidarität hat selbst die Initiatoren überrascht. Tausende schlossen sich dem Aufruf an. „Bei jeder möglichen Unterschriftensammlung zieren sich die Leute. Bei der 'Nein -zum-Kriegsdienst'-Kampagne hagelte es an Unterstützung und Unterschriften“, berichtet Tayfun Gönül. In Athen stellten sich türkische Kriegsdienstverweigerer gar gemeinsam mit Gleichgesinnten aus dem Land des Erzrivalen Griechenland der Presse vor.

„Drei Dinge braucht der Mann: Pferd, Weib und Waffe“, heißt es im türkischen Volksmund. Politiker verkünden stolz: „Die Türken sind ein Soldatenvolk.“ Bereits Grundschüler lernen Militärmärsche auswendig. Im Gefängnis - in der Türkei ist man dort öfter als in anderen Ländern - wieder Militärmärsche. „Tagtäglich endet das Fernsehprogramm mit der Nationalhymne und wöchentlich besudelt uns das Fernsehen mit einem Programm zur 'nationalen Verteidigung‘.“ Kritik an der Armee ist tabu, ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht. Bis zum Tode werden Türken zum Militär eingezogen, falls sie nicht ihren Kriegsdienst abgeleistet haben. „Ich erinnere mich noch genau an meinen Militärdienst. Ich habe dort einen alten Mann kennengelernt. Er war Araber türkischer Staatsangehörigkeit und sprach ein paar Brocken Türkisch. Sie hatten ihn mit 60 Jahren rekrutiert, weil er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hatte. 'Marsch, marsch‘, lautete der Befehl, und er humpelte den jungen Rekruten hinterher“, so ein Kriegsdienstverweigerer.

Alle wissen um die Horrorgeschichten beim Militärdienst: die Prügel, die Mißhandlungen, die Schikane, die von Offizieren organisierten Stripshows in den Kasernen, um die Rekruten bei Laune zu halten. Nach armeeamtlichen Zahlen sind in den letzten sechs Jahren 2.231 Militärdienstleistende gestorben. „Wir müssen endlich diese Geschichten öffentlich machen. Laßt uns eine Veranstaltung organisieren, wo Exsoldaten auspacken“, sagt ein Jugendlicher bei dem Treffen der Initiative.

Seit 78 Jahren hat diese Armee keinen Krieg gegen den „äußeren Feind“ geführt. Sie hat sich vornehmlich dem „inneren Feind“ zugewandt. Blutig wurden in der Vergangenheit kurdische Aufstände niedergeschlagen. Dreimal

-1960, 1971 und 1980 - hat die Armee geputscht. Zum einen war der 500.000-Mann-Moloch ein Repressionsinstrument nach innen, zum anderen die größte Sozialisationsagentur neben der Schule. Noch heute wird vielfach der Heirat eines Mädchens erst dann zugestimmt, wenn der Bräutigam den Militärdienst beendet hat. Erst dann ist er ein Mann. Erst dann hat er das Examen in der Schule der Nation, wo Gehorsam gegenüber dem Staat gelehrt wird, bestanden.

„Ich möchte mich nicht von meiner Geliebten trennen, deshalb sage ich nein zum Militär.“ „Ich möchte nicht im Dienste des Imperialismus in Kurdistan in den Krieg und dort auf meine Brüder schießen.“ „Ich sage nein zur Gewalt, deshalb auch nein zum Militärdienst.“ Aus den unterschiedlichsten Motiven sind die jungen Männer zur Initiative gestoßen. Viele der linken Gruppen haben den Aufruf nicht für ernst genommen und belächeln die Initiative, die mit Pazifisten, Anarchisten, Grünen und sogar durch und durch „Unpolitischen“ bunt zusammengewürfelt ist. Doch erbitterte ideologische Konflikte bleiben aus. Die einen wollen mit der Devise „Wir wollen nicht in Kurdistan fallen“ auf die Straße ziehen. Die anderen mit „Wir wollen nicht töten und nicht getötet werden“.

Die Plakate aus der Druckerei treffen ein. Binnen fünf Minuten ist geklärt, wer wo plakatieren soll. Für Istanbul ist die mühselige Genehmigung dafür eingeholt. Ein Jugendlicher will im benachbarten Izmit plakatieren. „Naja, drei Tage Polizeihaft sind nicht so schlimm, falls ich erwischt werde.“ In der Initiative herrscht Aufbruchstimmung. Rifat schwebt in den Wolken und kommt ins Schwärmen: „Stell dir vor, es gibt keine Armee mehr. Dann kann es auch keinen Militärputsch mehr geben!“