Tisch wegen Untreue angeklagt

■ Erste Anklage gegen früheres Politbüromitglied / Harry Tisch und Willi Stoph aus Haft entlassen

Berlin (dpa) - Erstmals ist gegen ein früheres SED -Politbüromitglied Anklage erhoben worden. Harry Tisch, jahrelang Chef des FDGB, legt die Generalstaatsanwaltschaft Vertrauensmißbrauch und Untreue zur Last. Es geht um FDGB -Gelder in Höhe von mehr als 4,5 Millionen Mark für ein Jagdreservat mit luxuriöser Behausung, 84.000 Mark für Privaturlaube sowie 100 Millionen Mark, die der Gewerkschaftschef eigenmächtig dem damaligen SED -Jugendverband FDJ überweisen ließ.

Die Anklageschrift wurde am Mittwoch dem Stadtgericht Berlin zugestellt. Dieses muß innerhalb von vier Wochen prüfen, ob es zum Prozeß kommt. Die Anklage stützt sich unter anderem auf das Strafdelikt „Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums“. Folgt das Gericht allen Anklagepunkten, drohen Tisch zehn Jahre Haft und mehr.

Er soll unter anderem 100 Millionen Mark aus dem FDGB -Solidaritätsfonds für das FDJ-Jugendfestival 1984 überwiesen haben. Die Idee zu dieser eigenmächtigen Transaktion, die gegen FDGB-Bestimmungen verstieß, soll im Politbüro Anklang gefunden haben.

Der 62jährige Tisch wurde inzwischen „aus gesundheitlichen Gründen“ auf freien Fuß gesetzt. Fluchtgefahr besteht nach Angaben eines Sprechers der Staatsanwaltschaft nicht. Bereits am Vortag sei außerdem der ehemalige Ministerpräsident Willi Stoph, der sich wegen Amtsmißbrauchs zu verantworten hat, ebenfalls wegen seiner angeschlagenen Gesundheit aus der Haft entlassen worden. Gegen Stoph, Erich Honecker und das frühere Politbüromitglied Günter Mittag soll die Anklage bis Ende März fertig sein. Ob der Vorwurf des Hochverrats gegen Honecker aufrechterhalten werden könne, wolle die Staatsanwaltschaft bis dahin „nochmals gründlich prüfen“. Die Anklageschrift gegen den früheren Vorsitzenden der DDR-CDU, Gerald Götting, soll noch diese Woche fertiggestellt sein.

Zur Zeit sind noch sechs ehemalige Politbüromitglieder in Haft: Günter Mittag, Erich Mielke, Günter Herrmann, Günther Kleiber, Werner Krolikowski und Heinz Keßler. Aus der Haft entlassen wurden bereits auch Hermann Axen, Horst Sindermann und Gerhard Schürer. Zur Zeit ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft gegen 30 frühere Spitzenfunktionäre der SED. Eine nicht näher zu beziffernde Zahl von Ermittlungsverfahren sei in den Bezirken und Kreisen der DDR gegen Ex-Parteisekretäre anhängig. Daneben liefen etwa 40 Verfahren wegen des Verdachts der Wahlfälschung.