BEWUSSTLOS SCHALTEN

■ Bauten und Projekte des Schweizer Architekten Fritz Haller in der Berlinischen Galerie

Fritz Hallers Bauten kennt jeder, der schon einmal durch die Schweiz reiste: Es sind die ewig modern wirkenden viereckigen Schulzentren aus den Sechzigern, die am Stadtrand auf der rasierten Wiese liegen, wo der Wind den Staub in die Flure treibt und es im Hof keinen Schatten gibt. Beim Lesen muß man die Augen zukneifen, weil der Beton so hell reflektiert. Heimlich rauchen in einer Ecke kann man dort ebensowenig wie eine Bananenschale wegschmeißen, da Natürliches am Boden einer Unmöglichkeit schlechthin gleichkommt. Hallerbauten sind außerdem jene ein- und zweigeschossigen Industriehallen und Verwaltungspavillons kleinerer Firmen, die als symmetrisches Raster gleich hinterm Dorf die Landschaft mit Künstlichkeit verschandeln und die Zersiedelung nach sich ziehen, wohnt doch der Chef im Kistchen gleich nebenan. Noch Stunden nach der Vorbeifahrt glaubt man das Bohnerwachs zu riechen und erinnert sich an die Unerträglichkeit architektonischer Ordnung. Durch Hallers Gebäude kann man durchgucken wie durch Gitterstäbe in der Luft. Zu sehen, zu kontrollieren sind die, die darin arbeiten.

Daß die Kläglichkeit des mit Containern verbauten Landes aus „USM HALLER Stahlbausystem Mini, Midi, Maxi“ mit dem Glauben an die Ordnung und der Angst vor dem Chaos zu tun hat, beweisen die Montagegebäude des Solothurner Architekten auf den ersten Blick, tritt doch in ihnen ein Reinlichkeits und Perfektionsfanatismus zutage, der den Rütli-Schwörern insgesamt im Leibe zu stecken scheint. Durfte bei Friedrich Schiller beispielsweise der Tell nach dem Superschuß den Vers aufsagen: „Laß die Hütte rein, wo die Unschuld wohnt“, so neigt Haller zu einer Reinheit totaler Architektur aus purer Geometrie, Systematik und Technik, die der Präzision einer Schweizer Uhr oder des Universaleinsatzes eines ebensolchen Messers gleicht und damit „ein sinnvolleres Leben im Industriezeitalter möglich macht“ (F.H.). Entwerfen, Planen und Bauen haben eine abstrakte Form zum Ziel. Unordnung und Eigensinn haben keinen Platz in einer Architektur, die sich einem funktionalen Rausch der Vernunft und kaltem Rationalismus unterwirft. Heim(e)lichkeiten gibt es dort nicht mehr. Ein Labyrinth aus unberechenbaren Zick -Zacklinien, Kurven oder Spiralen ist ausgeschlossen, ja unmöglich in Hallers Bauwelt.

Die Bauten und Projekte des „Jurasüdfüsslers“ Haller (neckische Bezeichnung für Architekten der Solothurner Schule aus der Region Südliches Schweizer Jura, die mit konsequentem Systemdenken im industriellen Bauen für Furore sorgten), die in der Ausstellung mit Modellen, Zeichnungen und Bildern präsentiert werden, gleichen einem in die Senkrechte gehievten Baukastensystem, das mit Stilelementen der klassischen Moderne eine orthogonale Ordnung aufreißt, die dem Areal eines klinischen Laboratoriums entnommen scheint. Die Schulen, Wohn- und Industriebauten erinnern an die schnittigen Fließbandprodukte der Wirtschaftswunderzeit, wo schnell wie am Schnürchen und ebenso bewußtlos gebaut wurde. Doch opfert der Eidgenosse die utopischen Elemente des Neuen Bauens einem beinahe militärischen Reglement rechter Winkel und versteckt einen lebendigen Funktionalismus hinter einer scheinbaren Vollkommenheit aus anpaßbaren Bauteilen. Es entstehen auf Stützen ruhende Wohnmaschinen und kristalline Hallen mit feingliedrigen Installationssystemen, durch die methodisch gestapelte Versorgungsadern wie Blutbahnen rasen, zeigen Fotos an den Stellwänden chirurgenähnliche Männer, die die Teile, (ganze Gedärme großer Häuser) mit spitzem Handwerkszeug im Zeitraffer zusammenschrauben, als sei's ein Kinderspiel. Auf Rüstungen sitzend, ohne Kelle und alles, stecken sie mit hellen Handschuhen Hauswände, Decken und Fenster ineinander, die der Baumarkt morgen jedem zum Selbermachen anbietet. Schließlich hocken die fertigen Rahmengebilde wie geometrisierte Insekten zwischen der geputzten bergigen Landschaft, auf Stahlstützen und mit dünnhäutigem Glas überzogen, so leicht und unwirklich, als könnten sie jeden Moment abheben und wegfliegen.

Die aus Bausteinen eines Baukastensystems erstellten Bauten besitzen eine spezielle Qualität des Gebrauchs und der Erscheinung, nämlich die einer schier endlosen Universalität. Die Bauteile sind Bausteine eines allgemeinen Systems, das überall montiert und abgeschlagen, umgebaut und erweitert werden kann und entsprechend dem Wandel seiner Nutzung alle nur möglichen Anforderungen erfüllt. Architektur wird zum Vorgang, zum Prozeß eines Rasters, das immer nur sich selbst multipliziert und die Konstruktion eines Gebäudes und seiner Teile zu keiner abgeschlossenen Sache, sondern offen im Hinblick auf Veränderungen macht.

Experimentierte der Technik-Freak Haller zu Beginn der fünfziger Jahre mit Modellen einfacher Baukastensysteme, die industriell gefertigt, seriell produziert, und rationell montiert werden konnten, so werden die Bauten der sechziger und siebziger Jahre aus komplexen Baukästen zusammengesetzt. Haller tüftelte dafür riesige Installations- und Zellensysteme aus, die Zauberwürfeln ähneln. Zugleich werden die Bauteile kleinteiliger und variabler, ganze Serien sind modifizierbar. Gehorchen die Bauteile etwa bei Hallers Technischer Lehranstalt Brugg-Windisch (1962) im Innern schon einem ausdifferenzierten System - Wege, Räume, Leitungen und Anschlüsse sind veränderbar - so herrscht an der Fassade noch immer eine gleichförmige Großform aus ein und demselben Fenstermodul, dessen Strenge selbst bei Hallers runden Wohnpavillions für das Ausbildungszentrum der Schweizerischen Bundesbahnen in Löwenberg Murten (1982) nicht aufgegeben wurde, obwohl er sich gerade dort von einer alles bestimmenden Form verabschiedet zu haben scheint.

Architektur scheint bei Haller gefangen im Netz modularer Ordnung und im Bewußtsein hoher technischer Qualität. Ein Haus, ob Schulgebäude, ob Krankenhaus oder Villa besteht aus Stützen und Trägern, Decken und Fassadenelementen sowie einem Versorgungsnetz. Räumlich ist alles erweiterbar, an Stützen lassen sich horizontale Träger ebenso anfügen wie Innenwände nach außen gekehrt und Geschosse addiert werden können. Das Haus ist ein System. Wohl fühlen, frei nach Karl Kraus, tut man sich bei sich selbst.

Zum Anachronismus gerät Hallers totale Systemeuphorie komplexer Baukästen nicht allein durch utopische Stadtpläne für ganze Kontinente oder die Entwicklung des Modells einer erdnahen Orbitalstation für 1.000 Menschen (1987), die in künstlich geschaffener Gravitation ein Leben traditioneller Science-Fiction-Literatur nachleben sollen, sondern durch eine technische und unhistorische Blindwütigkeit insgesamt, die Perfektion und formales Raffinesse über alles stellt.

rola

Die Ausstellung „Fritz Haller - Bauen und Forschen“ ist noch bis zum 30.März 1990 zu sehen, täglich (außer montags) von 10 bis 20 Uhr. Der Katalog kostet 48 Westmark.