Legalisierung des illegalen Zustands

Die belgische Feministin Veronique Degraef zur Abtreibungs-Diskussion im Land  ■ I N T E R V I E W

taz: Belgien ist neben der irischen Republik das einzige Land Westeuropas, in dem Abtreibung noch grundsätzlich als Verbrechen gilt. Heute nun diskutiert die Volkskammer im belgischen Parlament einen Vorschlag zur Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes. Was soll konkret beschlossen werden?

Veronique Degraef: Der Vorschlag zur Entkriminalisierung von Abtreibung, der jetzt zur Diskussion steht, wurde vor zwei Jahren vorgestellt. Er ist der erste von etwa fünfzehn Versuchen in den letzten zwanzig Jahren, der die Hürden im Senat, der anderen Kammer im belgischen Parlament, und in den Ausschüssen überwinden konnte. Er läuft zwar unter der Rubrik „Entkriminalisierung“, er impliziert jedoch lediglich eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts, denn Abtreibung soll - mit Ausnahmen - weiter strafbar bleiben.

Wie sehen diese Ausnahmen aus?

Es muß ein Notfall sein, der im Gesetzesvorschlag allerdings nicht weiter konkretisiert wird. Es bleibt der/m behandelnden Arzt/Ärtzin überlassen, wie sie die Situation der Frau einschätzen. Die Abtreibung darf nur in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erfolgen und muß in einem Krankenhaus durchgeführt werden.

Der Vorschlag soll auch eine Lücke in der Rechtsprechung schließen?

Ja. Wir haben in Belgien die verquere Situation, daß seit mindestens zwanzig Schwangerschaftsabbrüche in Krankenhäusern, vor allem aber in unabhängigen Familienplanungszentren praktiziert werden, obwohl das illegal ist.

Zu einem Eklat kam es 1973, als der bekannte Gynäkologe Dr. Willy Peers für drei Monate ins Gefängnis mußte, weil er in seinem Krankenhaus eine Abtreibung durchgeführt hatte. Daraufhin gab es eine Welle des Protestes, die dazu führte, daß eine Experten-Kommission eingerichtet wurde. Während der sechs oder sieben Jahre, die die Kommission tagte, waren Abtreibungsverfahren suspendiert.

Anfang der achtziger Jahre verschob sich dann das politische Gleichgewicht im Parlament. Als Folge davon wurden die Verfahren wieder aufgenommen. Allerdings wurde mit zweierlei Maß gerichtet: Im französisch-sprachigen Teil, in Wallonien, wurden die angeklagten ÄrztInnen nicht verurteilt. Im flämischen Teil Belgiens fielen die Urteile hingegen scharf aus. In Brüssel war es mal so, mal so. Nach Meinung der Befürworter des Gesetzes ist der jetzige Zustand ein Verfassungsbruch.

Belgische FeministInnen fordern die totale Entkrimininalisierung von Abtreibung. Hat diese Forderung Aussicht auf Erfolg?

Unsere Forderung ist von dem Verband der Abtreibungskliniken nicht übernommen worden. Die ÄrztInnen und SozialarbeiterInnen halten es für sinnvoller, das Gesetz so zu verändern, daß Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen erlaubt sind. Der Einfluß der katholischen Kirche ist in Belgien immer noch sehr stark. Und die Kirchenführer sind an einem Kompromiß nicht interessiert. Allerdings haben belgische Feminist Innen und AbtreibungsbefürworterInnen in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, vor allem mit den Frauen in den der wallonischen Christlich-Sozialen Partei in Kontakt zu kommen.

Diese Strategie war begrenzt erfolgreich. Die wallonischen Konservativen sind zwar immer noch gegen das neue Gesetz, aber nicht so geschlossen wie ihre flämischen Kollegen, die fordern, daß ein Richter über die Situation der Frau entscheidet. Daher könnte das Gesetz durchkommen.

Interview: Michael Bullard, Brüssel