Der Fall Guerra macht Spaniens Sozialisten nervös

Der Bruder des Vizepräsidenten soll sich durch seine Beziehungen zur Macht bereichert haben / Der aktuelle Skandal scheint nur die Spitze eines Eisberges / Auch in der Vergangenheit wucherte der Filz / Vorbei die „Hundert Jahre Ehrlichkeit“ der PSOE vor ihrer Machtübernahme  ■  Aus Madrid Antje Bauer

Gerade hatte Spaniens Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) mit Mühe die Wahlhürde genommen und konnte zum dritten Mal die Regierung bilden, da mußten erneut die Reihen fest geschlossen werden. „Erst haben sie versucht, die Gültigkeit des Wahlvorgangs und seine Sauberkeit in Zweifel zu ziehen. Danach haben sie geglaubt, den Stein der Weisen für ihre Angriffe gegen die PSOE in der Disqualifizierung und Diffamierung ihrer Führungskräfte gefunden zu haben. Und darin stimmen erneut die Taktiken der Rechten mit alten Strategien der II. Internationale überein“, schäumt Jose Maria Benegas, Nummer drei der PSOE, in der Parteizeitung 'El Socialista‘.

Der Anlaß für solch vehemente Vorwegverteidigung ist vordergründig recht banal. Juan Guerra, Bruder von Alfonso Guerra, dem Vizepremier, Vizegeneralsekretär der PSOE und Intimus des Regierungschefs Felipe Gonzalez, hat seines Bruders Stellung zum eigenen Vorteil benutzt. Von 1983 bis 1989 hat er, ohne eine offizielle Position zu bekleiden, ein Büro in einem Regierungsgebäude im andalusischen Sevilla innegehabt - angeblich mit Rückendeckung seines Bruders Alfonso. Darüber hinaus hat sich der ehemalige Arbeitslose in wenigen Jahren ein erkleckliches Vermögen zugelegt: fünf Appartements, eine Villa, einige Geschäfte und mehrere Ländereien nennt Juan Guerra sein eigen.

Die wundersame Vermehrung seiner Güter hat inzwischen bei der Staatsanwaltschaft von Sevilla den Verdacht erweckt, Guerra habe sich auch geschäftlich seiner Nähe zur Macht bedient. So soll er sich bei der Stadtverwaltung eines andalusischen Orts für die Errichtung eines Tourismuskomplexes durch eine bestimmte Firma verwandt haben. Die Autoplakettenfirma Samart, deren andalusischer Vertreter Juan Guerra heißt, soll bereits zwei Wochen vor der offiziellen Ausschreibung den Zuschlag für die Lieferung der Spezialplaketten für Dienstwagen anläßlich der Weltausstellung in Sevilla 1992 erhalten haben.

Hinzu kommen mehrere undurchsichtige Käufe von Ländereien und anderen Mauscheleien, die täglich durch neue Presse -Enthüllungen bereichert werden. Auch die Oppositionsparteien kochen fleißig ihr Süppchen.

Alfonso Guerra, der seinen Bruder bis vor einem Jahr als Sekretär beschäftigte, will von diesen Machenschaften nichts gewußt haben. Das Distanzierungsbefürfnis ist verständlich, denn die Verbindungen zwischen der sozialistischen Partei und Privatunternehmen, die Juan Guerra herstellte, mögen sich des öfteren auch positiv auf die Parteikasse ausgewirkt haben. Im Bestreben, den Schaden zu begrenzen, wurde das Angebot Juan Guerras, vorübergehend aus der PSOE auszutreten, dankbar angenommen. Sein Bruder forderte die Aufnahme von Untersuchungen.

Die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission über den „Handel mit Einfluß“, die von der rechten „Volkspartei“ und dem Linksbündnis „Izquierda Unida“ gefordert worden war, wurde indes von den Sozialisten abgebügelt. Statt Alfonso Guerras Rücktritt anzubieten, blies die Regierung zum Gegenangriff: Der Generalstaatsanwalt wurde angewiesen, gegen die beiden Tageszeitungen 'ABC‘ und 'El Mundo‘ Anklage wegen Diffamierung zu erheben (das Oberste Gericht lehnte allerdings die Anklageerhebung ab), Alfonso Guerra bekam Raum zur Selbstdarstellung im Fernsehen, und Felipe Gonzalez zückte für alle Fälle sein Lieblingsargument: Wenn Alfonso gehen müsse, drohte er, nehme auch er den Hut.

Doch die bewährte Mischung aus Aussitzen und Angriff wirkt bislang nicht recht. Täglich taucht neues Belastungsmaterial gegen Juan Guerra auf, und die Presse rührt vergnügt längst begraben geglaubte Geschichten wieder auf. So werden die Spanier daran erinnert, daß die PSOE 1982 laut dem bundesdeutschen SPD-Abgeordneten Peter Struck 1,7 Millionen DM von Flick erhalten haben soll.

Der Untersuchungsausschuß befand zwar, dies sei eine Lüge des Abgeordneten, es würde jedoch nie eine Verleumdungsklage angestrengt. Des Rumasa-Konzerns wird wieder gedacht, der zunächst verstaatlicht und dann zu einem äußerst niedrigen Preis verkauft wurde - angeblich an einen Klienten, der der PSOE wohlgesonnen war.

Zu einem Dutzend handfester Skandale um die Vermengung von Macht und Geld unter den Sozialisten gesellen sich eine Reihe kleinerer Ereignisse, die, gerade weil sie den spanischen realen Sozialismus charakterisierern, gut im Gedächtnis geblieben sind. Da ist das „Mystere„-Flugzeug der spanischen Luftwaffe, das Alfonso Guerra bestieg, als er bei der Rückkehr aus dem Urlaub in einen Stau geriet; da ist der Flügel, den Verteidigungsminister Narcis Serra auf Staatskosten erwarb; da sind die Luxusklamotten, mit denen sich die TV-Direktorin Pilar Miro aus Steuermitteln ausstattete. Und nicht zu vergessen die Stimme des konservativen Abgeordneten Pineiro, die der Opposition im Parlament des Landes Madrid vergangenes Jahr fehlte, um den sozialistischen Landesvater Leguina zu stürzen.

Als sie noch lange Haare und Kordjacken trugen, hieß das Motto der Sozialisten: „Hundert Jahre Ehrlichkeit.“ Inzwischen wurden die Haare auf Bürokratenlänge gestutzt, die Schlapperjacken durch Anzug und Krawatte ersetzt, und auch das Motto ist in die Rumpelkammer gewandert. Der Fall Juan Guerra ist nur die Spitze eines Eisbergs und wirft ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die völlig von den Interessen einer übermächtigen Partei durchdrungen worden ist.

Die PSOE ist die letzte, die das ändern will. „Als Partei müssen wir weiterhin über die Zukunft des Sozialismus nachdenken und über die neuen Perspektiven, die sich der Linken in Europa und in der Welt eröffnen. Dabei dürfen wir uns von dem Lärm, der um uns herum gemacht wird, nicht betäuben lassen“, predigt Jose Maria Benegas dem Parteivolk. Für kurze Zeit mag der Appell an die Rechtgläubigkeit helfen.