WAA-Firma rät: Macht keine Kids!

Sellafield-Betreiber finden Lösung für Leukämierisiko bei Kindern von Arbeitern / Belegschaft verunsichert  ■  Von Ralf Sotscheck

Dublin (taz) - Arbeiter in der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield (Windscale), die darüber besorgt sind, daß ihr Erbgut Leukämie bei ihren Kindern auslösen kann, sollten keine Kinder zeugen. Diesen Rat gab ihnen der Direktor der Gesundheits- und Sicherheitsabteilung von Sellafield, Dr. Roger Berry. Er sagte: „Den Arbeitern werden individuelle Gespräche angeboten. Wenn sie so sehr besorgt sind, könnte der Rat lauten: Verzichtet auf Kinder.“

Professor Martin Gardner von der Universität Southampton hatte in seinem vor einer Woche veröffentlichten Untersuchungsbericht über die hohe Leukämierate in der Umgebung von Sellafield festgestellt, daß radioaktive Strahlung eine genetische Veränderung der Spermien verursachen kann. In Seascale, einem Seeort fünf Kilometer südlich der WAA, beträgt die Leukämierate das Zehnfache des Landesdurchschnitts.

Gardner sprach gestern mit der Belegschaft in Sellafield. Er wies darauf hin, daß sich das Risiko für Kinder verachtfache, wenn der Vater radioaktiver Strahlung ausgesetzt ist, „das ist eine Zahl, die jeder selbst interpretieren kann“.

An der Informationsveranstaltung nahmen über tausend Arbeiter teil. Viele waren völlig verunsichert und verweigerten jegliche Stellungnahme. Ein junger Mann, der im „heißen Bereich“ der WAA arbeitet, sagte: „Ich will aber gerne noch ein Kind haben.“

Eine Sprecherin von CORE (Cumbria gegen eine radioaktive Umwelt) wies gegenüber der taz darauf hin, daß die Wiederaufbereitungsanlage der einzige große Arbeitgeber in Cumbria sei. Den Arbeitern bleibe nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und radioaktiver Verseuchung.

Sie sagte: „Die Leute tun mir leid. Ich frage mich, welche Mentalität hinter dem Rat von Herrn Berry steckt. Der menschliche Aspekt scheint überhaupt keine Rolle zu spielen.“ Stan Crush von Greenpeace sagte: „Es ist empörend, daß Dr. Berry überhaupt in Betracht zieht, Menschen davon abzuraten, Kinder zu zeugen. Es ist nicht Aufgabe der Arbeiter, sich anzupassen, sondern Sellafields Pflicht, die gefährlichen Praktiken abzustellen.“ Die Umweltschutzorganisation „Friends of the Earth“ forderte eine sofortige Reduzierung der zulässigen jährlichen Strahlendosis auf zehn Millisievert. Fortsetzung Seite 2

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James Cutler, der bereits 1983 in einem Fernsehfilm als erster auf die hohe Leukämierate in Seascale aufmerksam gemacht hat, bedauerte, daß Gardner nicht die Eßgewohnheiten der Eltern vor der Zeugung und während der Schwangerschaft untersucht habe. Er sagte, aus dem Gardner-Bericht folge, daß die Verseuchung der Irischen See durch die Anlage in Sellafield weitaus gefährlicher sein könne, als selbst die schärfsten Kritiker bisher befürchtet haben.

British Nuclear Fuels (BNFL), die Betreiberfirma von Sellafield, versuchte gestern, Berrys Äußerung zu verharmlosen. BNFL-Pressesprecher Jake Kelly sagte zur taz: „Das ist nicht unsere Politik. Der Satz wurde aus dem Zusammenhang gerissen. Berry wollte sagen, daß Ge

spräche zwischen Arzt und Patient vertraulich sind. Ärzte können ihren Patienten lediglich Ratschläge geben und sie über Risiken aufklären. Die Entscheidung liegt jedoch bei den Patienten.“

Gardners Bericht hat auch in anderen britischen Atomanlagen für Beunruhigung der Belegschaft gesorgt. In Aldermaston, wo die Atomsprengköpfe für die Trident-Raketen hergestellt werden, forderten Gewerkschaftssprecher umgehend die medizinische Untersuchung der Arbeiter.

Jack Dromey von der Gewerkschaft TGWU sagte, der Gardner -Bericht habe die Atomindustrie wie ein Hammerschlag getroffen. Enorme Investitionen seien notwendig, um die Sicherheit der Arbeiter zu gewährleisten. Die Gewerkschaften warnten den Verteidigungsausschuß des Unterhauses davor, die Atomwaffenproduktion an Privatfirmen zu übertragen.