Leben auf der Platte

■ Das Wie und Was der Einrichtungsfrage stellt sich für sie nicht. Schlafsack und Plastiktüte müssen reichen: Obdachlose, denen oft nur die Schnapsflasche Geborgenheit vorgaukelt.

Von

HANS-HERMANN KOTTE

ichaels soziale Hängematte hängt heute abend zwischen zwei Eichen in der „Hasenheide“, dem großen Park in Berlin -Neukölln. Viertel vor sechs, kurz nach der Dämmerung. Nur die Gaskartusche, die Michael zum Kochen benutzt, wirft ein wenig Licht auf den Lagerplatz. Ein Rucksack, ein Waschmittelkarton, ein Klappfahrrad für den Transport, dicht behängt mit Aldi-Taschen.

„Hat ja wat, der Treibhauseffekt“, kratzt es aus ihm heraus, als er es sich auf einer alten 'Bild'-Zeitung und seiner Pelzmütze bequem macht. Heute war der bisher wärmste Februartag dieses Jahrhunderts, 16 Grad, heute also keine Läusepension, kein Kirchenkeller, sondern „autonom ratzen“. Normalerweise quartiert sich Michael im Winter im Männerwohnheim ein, unumgänglich bei Minusgraden, im November gab es den ersten Kältetoten. Aber er nutzt jeden Tag, an dem er es draußen aushalten und das Heim meiden kann: „Ich hab's wegen der Sozialhilfe gemacht, man braucht ja 'ne Meldeadresse.“ So ist er mit Hängematte und Schlafsack unterwegs, verbringt manchmal eine Nacht in einem durchgehend geöffneten Porno-Kino in der Potsdamer Straße. Im Wohnheim stinkt's ihm ziemlich: Frühe Nachtruhe um 22 Uhr, Kontrollgänge des Personals, nur wenige Klos, nervige Mehrbettzimmer. Das Ganze bei einem Tagessatz von 25 Mark, dabei muß er noch Essen und Putzmittel selbst bezahlen. Noch schlimmer findet er die überheizten Notunterkünfte in einigen Kirchengemeinden, und mit der ursprünglichen Idee des Sozialsenats, auch Bunker für Obdachlose zu öffnen, kann er sich gar nicht anfreunden.

Michael nimmt einen tiefen Schluck aus der Drei-Liter -Lambrusco-Bombe. Sein Vollbart, der weit ins Gesicht und tief am Hals runter wächst, seine geschwollene rote Nase und die Hautabschürfungen über den Augenbrauen verdoppeln optisch sein biologisches Alter. Dabei ist er noch gar nicht so lange auf der Straße, seit 1988. Vor vier Jahren ist er aus der „Zone“ gekommen, arbeitete im Reisebüro seiner Freundin, bis die ihn rausschmiß. „Eenmal hab‘ ich noch 'ne Wohnung gefunden, aber da haben die mich rausgeklagt, danach ging's dann ab, Alk-mäßig.“

bdachlose in Berlin, das sind schon lange nicht mehr nur Parkbank und Brücke, Lüftungsschacht und Bahnhofshalle, das sind nicht mehr nur die typischen Penner oder Berber. Es werden immer mehr, und sie werden immer jünger, der Frauenanteil steigt an. Nach den Zahlen der SPD -Sozialsenatorin Ingrid Stahmer gab es im September letzten Jahres insgesamt 6.000 Leute in Obdachlosen-Einrichtungen plus geschätzten 600, die auf Platte leben. Die mitregierende AL und die „Initiative für Nichtseßhaftenhilfe“ hingegen gehen von mehr als 30.000 Obdachlosen aus. Sozialarbeiter des Diakonischen Werks sprechen von mindestens 12.000 Obachlosen.

Während die offizielle Statistik auf den Meldedaten und Zahlen der Sozial- und Wohnungsämter beruht, rechnet die AL auch diejenigen mit ein, die ohne eigene Wohnung bei Freunden unterkommen, sich ohne Sozialhilfe selbst in Pensionen einmieten oder sich in Slum-artigen, provisorischen Behausungen, alten Bauwagen und wrackigen Hausbooten einquartiert haben. Auch Knackis, Leute in stationärer Krankenhausbehandlung oder in der Psychiatrie, die draußen keine eigene Wohnung haben, werden zur großen Dunkelziffer gezählt.

Nur wenige Kilometer östlich von Michaels Hängematte liegt an der löchrigen Mauer „Neu-Treptow“. Der Geländestreifen an der Görlitzer Brücke, ein Stück Rasen, das eigentlich schon Staatsgebiet der DDR ist, wurde im letzten Sommer gegen Widerstände der Grenzpolizisten von Obdachlosen besiedelt. Elf Behausungen standen zeitweise hier, improvisiert aus Wohnwagenvorzelten, Planen, Wellpappe und selbstgezimmertem Gebälk. Jetzt, da es kalt geworden ist, die lautstark hackenden Mauerspechte regieren und nebenan ein neuer Grenzübergang entstanden ist, liegt die Zeltkolonie verlassen da. Nur Wolfgang, der im letzten Frühjahr aus Bielefeld nach West-Berlin kam, ist noch hier, weil er Wohnheime nicht ausstehen kann. Zunächst hatte er eine Wohnung, überließ sie jedoch nach der Trennung seiner Frau. Danach nur noch Fehlanzeige. Einige Wochen kam er in Obdachlosenheimen über die Runde, bis er mal beklaut wurde und wütend in ein Zelt am Schutzwall zog. Er genoß die Romantik der kleinen Zeltstadt und die Tatsache, „daß man nie allein war“.

Sein inzwischen zur Hütte mutiertes Zelt heizt er nun notdürftig mit einem kleinen Allesbrenner, oft friert das Holz im Ofen, Ofenanzünder reichen nicht mehr aus, es helfen nur noch in Spiritus getränkte Altkleider oder Altpapier. Für Licht sorgen Kerzen und eine Autobatterie. Eine alte Polstergarnitur, ein Tisch und eine Anrichte sowie Campingkocher und eine Waschecke sorgen für eine Art Wohngefühl. Der 37jährige arbeitslose Lackierer lebt von ein paar hundert Mark Sozialhilfe.

Er preßt seine Hände um eine heiße Teetasse. Wolfgang hofft nun doch darauf, in einem gerade fertiggestellten Wohnheim in Neukölln unterzukommen: „Das geht hier nicht ewig gut, bei 'ner längeren Frostperiode würde ich erfrieren.“

ie drastisch die Wohnungsnot in Berlin ist, zeigt sich auch daran, daß die BerlinerInnen nicht mehr umziehen. Wo einst riesige und billige Altbauwohnugen gewechselt wurden wie Hemden, wird nun die Devise „My home is my castle“ ausgegeben. Über Anzeigen ist nichts zu finden, selbst bei den Makler-Haien ist Ebbe, es sei denn, der Preis darf bei mehr als 20 Mark pro Quadratmeter liegen. Früher zogen pro Jahr noch 7,5 Prozent aller BerlinerInnen um, heute sind es noch schlappe 4,5 Prozent. In der zukünftigen (Teil -)Hauptstadt fehlen, wie die Volkszählung ergab, rund 100.000 Wohnungen.

So schnell, wie die Zahl der Wohnungssuchenden steigt, kann gar nicht nachgebaut werden. Lediglich 12.000 Wohnungen wurden in den letzten zwei Jahren neu errichtet, parallel dazu steigt die Zahl der wohnraumfressenden Single-Haushalte weiter an, wächst die Zahl der Aus- und Übersiedler, wird das wiedervereinigte Berlin in Zukunft noch mehr Menschen anziehen.

Noch in dieser Legislaturperiode will der Senat 35.000 neue Wohnungen schaffen. Dieser Zahl stehen zur Zeit 70.00 BerlinerInnenn mit Wohnberechtigungsschein gegenüber, mehr als 30.000 davon mit „Dringlichkeit“.

Uli (39) und Günter (40) verbrachten die Nächte im Herbst letzten Jahres monatelang in den Nachtbussen der Linie 4. An der Endstation wurden sie geweckt, dann ging's in die Gegenrichtung. Heute schlafen sie im eigenen Bett im eigenen Zimmer. Zusammen mit drei Obdachlosen-Kollegen und zehn jugendlichen Hausbesetzern schnappten sie sich im November eine leerstehende Wohnung in Charlottenburg, danach wurde ihnen von der betroffenen Wohnungsgesellschaft sogar ein ganzes Haus zur Verfügung gestellt. Die fünf nennen sich „Dynamische Obdachlose“ und geben sich kämpferisch: „Wir kneifen beim nächsten Frost nicht den Arsch zu.“ Momentan wohnen noch 15 weitere Obdachlose in dem Haus der „Dynamischen“, von der Wohnungsbaugesellschaft haben sie eine Zusage bis April. Uli und Günter, die Ausnahme, die die Regel bestätigt.