Aus Liebe zu Hajj Agha

■ Eine Erzählung aus dem Iran

Nasim Khaksar

Plötzlich fühlte ich mich in einen Hund verwandelt. Nicht im Sinne eines wilden Tieres - ganz im Gegenteil. Eines gehorsamen, edlen Tieres. In den ersten Tagen war es schwierig, die neue Situation zu begreifen. Schließlich ist man auch nur ein Mensch. Einundzwanzig Jahre alt. Strotzend vor Energie. Politischer Aktivist. - Ich entschuldige mich bei allen politischen Aktivisten, die im Iran und in der ganzen Welt kämpfen, daß ich dieses Wort für meine frühere Person benutze. - Während der Revolution, als ich noch mit den Jungens aus der Nachbarschaft durch die Straßen und Alleen von Teheran zog und schrie „Tod dem Schah“, da gab es kaum einen, der mit mir hätte mithalten können. Du denkst, du kennst Mohammad, aber du hättest mich mal hören sollen. Ich hätte nie gedacht, daß eines Tages meine Haut mein großes Problem werden könnte. Aber nein, meiner Haut kann ich keine Vorwürfe machen. Jeder hat eine Haut. Ich habe eine. Du hast eine. Jeder Mensch, jede Kreatur zu Lande und zu Wasser hat eine Haut. Meine ist kein bißchen anders als die anderer Leute. Und daß das so ist, darin liegt das Problem. Aber ich habe gesagt, daß ich mich plötzlich in einen Hund verwandelt fühlte, und ich meine damit, daß ich meines natürlichen Zustands als Mensch beraubt war. Später, als ich endlich verstanden hatte, was ich war, verlor ich alle Achtung und Würde als Mensch. Ich sagte mir, Mohammad, da ist nichts mehr übrig. Gewöhne dich an deine neue Situation. Ob das schmerzlich ist? Ich weiß es nicht.

Jetzt sitze ich in meiner Zelle. Baqer sitzt auf meiner einen, Ahmad auf der anderen Seite. Gegenüber sitzen Javadi und Yunus, zwischen ihnen ist ein kleiner Raum frei. Alle fünf sind wir mit Lesen beschäftigt. Die anderen lesen eifrig in den religiösen Schriften von Motahhari. Ich habe ein Buch des Märtyrers Ayatollah Dastgheyb mit dem Titel Todsünden. Alle sind wir ohne Ausnahme Menschen, die in Hunde verwandelt sind. Javadi ist der Jüngste. Er ist kaum siebzehn -, so alt war ich während der Revolution. Er hat schmerzerfüllte Augen. An Besuchstagen wiegt die Last der Traurigkeit noch schwerer auf seinen Lidern.

Ich habe ihn nie von jemand anderem sprechen hören als von seiner Mutter und seiner neunjährigen Schwester. Javadi hat sein Gesicht im Buch vergraben. Er lernt die Sätze auswendig. Ich dagegen kann meine Aufmerksamkeit kaum dem Buch in meinen Händen zuwenden. Ich fühle mich seltsam. Ich weiß nicht. Vielleicht haben die Ängste des siebzehnjährigen Javadi, die ich noch nicht verstehe, eine Bresche in mein Dasein geschlagen. Seit heute morgen hat Javadi jeden Augenkontakt mit uns vermieden. Ich vergrabe mich wieder in das Buch.

Ja, ich versuche herauszukriegen, ob Hunde den Schmerz ebenso wie Menschen spüren. Ich glaube, das ist eine dumme Frage. Ich meine - wer hat nicht schon einmal einen Hund heulen hören? Ich selbst habe die Schmerzen streunender Hunde gesehen, die von Stadtangestellten mit Gift gefüttert wurden. Ihr Todeskampf gibt einem wirklich einen ziemlichen Schock. Das bis zum Ende anzusehen hatte ich nie den Mut. Sich allein die Agonie dieser Hunde vorzustellen, denen man Nadeln ins Futter getan hat - ihre Krämpfe und ihr Winseln -, ist schon quälend. Vielleicht ist es aber doch eine andere Sache, diese Zweifel, ob ein Mensch, der in einen Hund verwandelt worden ist, Schmerzen fühlt. Jedenfalls wurde ich genau fünf Monate nach meiner Verhaftung im Evin -Gefängnis durch Hajj Agha zu einem Hund. Aber das ich schierer Blödsinn. Nicht daß ich jemanden kritisieren will. Die Vorstellungen von einem, der noch ein Mensch ist, sind wohl andere als die eines Mannes, der zu einem Hund wurde.

Einmal zeigten sie uns einen Film im gefängniseigenen Fernsehen über den Besuch ausländischer Journalisten in Evin. Auch ich war in der Gefangenengruppe dieses Films zu sehen. Und Javadi und Yunus waren dabei. Hajj Agha saß dort auf einem Stuhl und erklärte den Koran, während wir im Kreis um ihn herumsaßen und seinen Worten lauschten. Sie sagen, der Film sei auch im Ausland im Fernsehen gezeigt worden. Die Aktivisten schrieben in ihren Zeitungen, daß der Film eine Fälschung gewesen sei. Sie schrieben, daß keiner der Gezeigten ein echter Gefangener gewesen sei. In dem Moment, als ich den Film selber sah, begriff ist, daß keiner von draußen glauben würde, was er sah. Aber was konnte man da machen? Meiner Meinung nach verstehen Ausländer den Film besser als wir Iraner. Die Leute, die man dort sah, wie sie um Hajj Agha herumscharwenzelten, waren wirklich und wahrhaftig Gefangene. Schließlich saß ich selbst dabei und katzbuckelte vor ihm. Kann ich denn mein eigenes Gesicht bestreiten? Nein, das wäre absurd! Die Wahrheit ist, daß ich ein bißchen traurig war. Immerhin war ich ein Gefangener. Entschuldigt, daß ich so spreche. Alle Menschen, die in einen Hund verwandelt worden sind, machen diesen Fehler. Daß heißt, sie vergessen, daß sie ein Hund sind und sprechen gerade so, als wären sie kein Hund. Tatsache ist, daß Hajj Agha Lajvardi wirklich liebenswürdig war. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum sich alle gegen einen Mann von solchem Charme verschworen haben. Jeden Tag, jede Stunde erfinden die Leute neue Verleumdungen gegen ihn. Hajj Agha, dessen Güte einen Mann innerhalb von vier oder fünf Monaten in einen Hund verwandeln kann, verdient doch wohl Anerkennung und nicht Spott und Flüche. Naja, das ist natürlich ein Werturteil. Also gut, sollen die Leute eben glauben, dies sei nichts anderes als die Phantasie von jemanden, der in einen Hund verwandelt wurde. Ich habe nichts dagegen. Überhaupt streite ich mich mit niemandem. Wirklich, ich möchte niemanden verärgern. Ich erkläre nur die Situation. Erkläre sie mir selbst. Ich möchte wissen, wie ich zu einem Hund wurde.

Ich fühle, wie Ahmad seinen scharfen Blick auf mich gerichtet hat. Er fragt: „Mohammad, bei welchem Kapitel bist du gerade?“ Ich schiele auf die Überschrift: „Akte des Glaubens, die den Gläuigen in das Höllenfeuer führen.“ Ahmad fragt: „Wie von Abu Basir überliefert?“ „Ja“, sage ich. Und Ahmad sagt: „Am Tage der Auferstehung wird ein eifriger Diener Gottes, der die Gebete strikt einhielt, nach vorne geholt und man sagt ihm: 'Als du in der Welt deine Gebete sprachst, da war kein Grund, daß die Leute dich loben sollen und darüber staunen, wie gut du die Gebete sagen kannst.‘ Und mit diesen Worten wird er dem Höllenfeuer übergeben.“

Um seine Müdigkeit abzuschütteln, streckt Ahmad seine Arme aus und fährt mit einem Gähnen fort: „Fürchtet euch, fürchtet... den Tag, wenn selbst die Hölle sich abwendet von den Flammen, in denen ihr steht.“ Er nickt dazu und sagt: „Siehst du, ich kann alles auswendig.“

Javadi hebt den Kopf von seinem Buch und starrt Ahmad an. Heute steht eine seltsame Angst in seinen Augen. Wie sehr ich mir wünsche, daß Javadi mir den Grund dafür sagte.

Yunus legt einen Finger auf die Lippen: „Psst! Leute, Lesestunde!“ Javadi steckt schnell wieder seinen Kopf ins Buch.

Aber ich hatte über die Haut gesprochen. Ich habe gesagt, ich hätte irrtümlich geglaubt, der Haut die Schuld geben zu müssen. Aber die Haut war nicht der entscheidende Faktor. Der entscheidende Faktor war die Peitsche. Ich habe bisher noch in keiner Geschichte, bei der es um das Ausgepeitschtwerden geht, eine Beschreibung gefunden, die meiner Erfahrung entspricht. Nachdem ich ausgepeitscht worden bin, dachte ich, daß das Wort „Folter“ aus dem Wörterbuch getilgt werden müßte. Das Wort „Folter“ ist nicht angemessen. Es ist ungenau. Warum entfernen wir das Wort „Peitsche“, das so klar und deutlich ist, und ersetzen es durch ein anderes Wort, so daß wir dann später, wenn wir uns mitteilen wollen, sagen: schlagen, fesseln, brennen, jemanden wach halten, jemanden auf einem Bein stehen lassen, vergewaltigen, über dem Boden aufhängen, Fingernägel ausziehen, Einzelhaft, Klistiere mit kochendem Wasser, Elektroschocks, Gewichte an den Hoden, Pisse im Mund, die eigene Scheiße ins Gesicht reiben, jemanden zweimal zur Scheinexekution führen... Das alles macht einen ganz benommen. Wenn der Mensch erst einmal begriffen hat, daß die Peitsche der Aristokrat unter den Folterformen ist, wird er sich nicht mehr gezwungen fühlen, all die anderen Worte aufzureihen, um etwas zu beschreiben. Denn was ist der Punkt dabei? Damit du und ich Mitleid fühlen? Tut mir leid, aber ich denke, daß jemand, der alle diese Worte für Folter gebraucht, egal wer er ist, nichts anderes tut, als in sich selbst und anderen eine Art Verlangen zu foltern auslöst. Es kommt mir vor, als umgebe er sich mit diesen Wörtern freudig wie mit Spielzeug und zeige sie stolz den anderen. Glaube mir, der einfache und klare Ausdruck „Ausgepeitschtwerden“ reicht für alle anderen Formen der Folter auch. Wer mir nicht glauben will, soll hevortreten und zu Hajj Agha Lajvardi gehen, dort wird er lernen, worum es beim Ausgepeitschtwerden geht. Und glaubt mir, es ist ein Fehler, wenn wir die Welt des Gefängnisses und der Folter nur durch Bilder der Helden beschreiben, die unter der Folter nicht zerbrochen sind. In Wahrheit habe ich solche Leute schon vor langer Zeit abgeschrieben. Ich meine, ich habe mit ihnen nichts zu tun. Natürlich hat jeder so seine eigene Vorstellung. Und meine ist vielleicht nur die eines unglückseligen Hundes. Ich habe sogar schon einmal gedacht, daß Folter - ich sollte sagen „die Peitsche“ - in Zusammenhang mit der obengenannten Sorte von Helden den anderen eine Art natürliches Recht gibt, die Sache zu leicht zu nehmen und zu sagen: „Ja Ausgepeitschtwerden ist eine ganz einfache, alltägliche Sache, die man so mitmacht. Wer Eis ißt, kriegt einen kalten Bauch, und das Gefängnis ist schließlich kein Ort, an dem Bonbons verteilt werden.“

Ahmad sagt: „Mohammad, deine Gedanken sind wohl nicht bei deinem Buch“, und während ich meinen Kopf hebe, fällt Javadi das Buch aus der Hand und auf den Boden. Ahmad sagt lachend: „Ich habe nicht mit dir geredet, Javadi.“ Javadi hebt ungeschickt sein Buch wieder auf. Ein trauriges Lächeln steht in seinem Gesicht. Javadi versteckt sein Gesicht schweigend wieder im Buch. Seine schmalen Schultern ähneln denen eines zehnjährigen Kindes. Yunus sagt: „Mohammad, Heuchler sind Götzendiener. Wenn dein Herz nicht dabei ist, leg das Buch beiseite.“

Mein Blick gleitet über die Buchseiten. Perlen aus den Worten des Propheten: Kapitel 8. „Ein weiterer Mann wird nach vorn geholt, der zu Lebzeiten bekannt war für seine Werke der Barmherzigkeit, und man sagt ihm 'Dein Grund war, daß andere dich für einen großzügigen Mann halten sollten‘, und auch er wird dem Höllenfeuer übergeben.“ „Nein“, sage ich, „ich lese.“ Mit dem Rücken an der Wand sinke ich in mich zusammen, bis mein Kopf, wie bei Javadi, hinter den Buchseiten verschwindet.

Nein, meine Damen und Herren, ausgepeitscht zu werden ist keine so einfache Sache. Es hat sein eigenes Zeremoniell. Und glaubt mir, Hajj Agha hat uns alle eingeführt. Es geht dabei um ein Ritual. Zuerst wird der Mensch auf einer hölzernen Bank ausgestreckt. Manchmal ist es auch ein besonderer Block zum Auspeitschen - und natürlich ist die Form dieser Blöcke nicht immer dieselbe. Mancher ist lang, ein anderer kurz. Oft befestigt man die Hände und Füße des betreffenden Individuums fest an der Bank. Manchmal jedoch auch nicht. Statt dessen finden sich drei oder vier starke Kerle, die dir auf Brust, Bauch und Beinen sitzen. Oder dann wieder läßt man dich einfach so hinlegen, damit du dich unter den Schlägen windest und drehst. Überhaupt hast du dann ein Problem. Du mußt dann nämlich die Arbeit des Folterers selber tun und deinen Körper zwingen, sich der Peitsche auszusetzen - möglichst noch so, daß die Schläge auf die weniger empfindlichen Stellen treffen. Auch die Fesselung des Gefangenen auf der Bank, die extra hergestellt ist für diesen Zweck, wird nicht immer auf die gleiche Weise vorgenommen. Die Agenten des Schahs fesselten auf ihre Art. Und die von Chomeini fesseln auf die ihnen eigene Weise. Für die Agenten des Schahs waren Fußsohlen und Hintern der Person von besonderer Wichtigkeit. Von einem politischen Gefangenen aus der Zeit des Schahs hörte ich, daß der Folterer Rasuli meinte, zwischen den Nerven der Fußsohlen und dem Bewußtsein eines Menschen bestehe eine direkte Verbindung. Das ist eine interessante These! Merkwürdig, daß wir einen Wissenschaftler nicht verdammen, der hilflose Frösche einer Vivisektion unterzieht, um etwas über den Blutkreislauf herauszufinden und damit die Grenzen der Wissenschaft zu überwinden. Aber einen Rasuli verdammen und verfluchen wir tausendfach, nur weil er die Fußsohlen eines Gefangenen dreißig oder vierzig mal peitscht, um seine Theroeie von der Verbindung zwischen Gehirn und Nerven der Fußsohlen zu beweisen.

Naja, vermutlich werdet ihr auch hierzu sagen, daß es nur die Phantastereien einer Person sind, die in einen Hund verwandelt ist. Ich werde still sein.

Wenden wir uns statt dessen einer wichtigeren Angelegenheit zu. Chomeinis Agenten glauben überhaupt nicht an die Wissenschaft. Für sie hat die Peitsche eine metaphysische Kraft. Eine Kraft, die jenseits menschlicher Möglichkeiten ist. Für sie hat die Peitsche die Bedeutung eines Wunders. Der gesamte Körper des Gefangegen muß sie fühlen, damit dieses Wunder stattfinden kann. Das bedeutet, daß ein Mensch, der unberühbar und rituell unsauber war, eine Kreatur, die eigentlich in den Flammen des Höllenfeuers brennen muß -, daß dieser Mensch rein wird, rituell gesäubert und wert, die Gärten des Paradieses zu betreten. In den Augen Hajj Agha Lajvardis ist der Widerstand des Gefangenen unter der Peitsche der eines Babies, das sich weigert, aus dem Bauch seiner Mutter herauszukommen. Seiner Meinung nach ist es so, daß das Baby sich zu sehr an die Dunkelheit im mütterlichen Bauch gewöhnt hat, um ganz ohne Zwang den Schritt in eine neue Welt tun zu können. So entspricht das, was er dabei tut, nach seiner Vorstellung nur den Pflichten einer Amme. Natürlich einer altmodischen Amme. Vielleicht hält er deshalb so viel von dem wissenschaftlichen Stil einer Amme vom Schlage Rasulis.

Nun los, sagt schon, daß Hajj Agha Ajvardi ein Teufel ist. Sagt, daß er ein böser Geist ist. Aber hat es denn jemals ein Kind gegeben, daß seine Amme nicht liebt? Yunus hat, nur Hajj Agha zu gefallen, aufgehört, Besuche seiner Familie zu empfangen. Gibt es denn stärkere Bande als die der Familie? Kürzlich kam sein Vater schon dreimal umsonst zum Gefängnis

-Yunus weigerte sich, ihn zu sehen. Er sagte, Hajj Agha sei sein wirklicher Vater. Dabei hat sogar Hajj Agha selbst versucht, einzugreifen - aber es nützte nichts. Als ich noch nicht im Gefängnis war, hörte ich draußen oft sagen, daß Hajj Aghas böser Charakter in seinem Gesicht zu sehen sei. Selbst ich mochte sein Gesicht nicht. Sicher erinnert sich jeder an den Tag, als er mit den Leichen von Ashra und Musa auf dem Bildschirm des Fernsehens erschien, den Arm um Mas'ud Rajavis Kind gelegt. In diesem Augenblick war der Ekel vor Hajj Agha, der in den Augen aller stand, jenseits aller Beschreibung. Es war, als habe man noch nie eine schmutzigere, monströsere Kreatur gesehen als ihn. Einer sagte: „Seine Augen! Seht seine Augen hinter der Brille!“ Ein anderer sagte: „Die Nase... Oh seht doch nur diese unheimliche Nase!“ Gerüchte besagen, daß einige beim Anblick dieser, wie sie meinten, unglaublichen Zurschaustellung von Grausamkeit und Häßlichkeit ihre Bildschirme einschlugen und ihre Fernseher mit bloßen Fäusten zerschmetterten. Aber mit all diesen Meinungsäußerungen war man völlig im Irrtum. Ich selbst habe diesen Film in Evin viele Male zusammen mit Leuten gesehen, die ihn schon draußen gesehen hatten. Nach der Sendung haben wir immer wieder darüber gesprochen, wie freundlich, gut und voller Mitleid Hajj Agha doch war. Ich meine, was hätte Hajj Agha denn in diesem Fall sonst tun sollen? Hätte er Rajavis Kind dort am Boden unter all den Leichen und dem Blut liegenlassen sollen? Er sagte selbst, daß seine Gefühle als Amme ihn gezwungen hätten, so schnell wie möglich dort zu erscheinen. Hajj Agha hat recht. Er liebt uns so sehr, daß er nicht aushält, von uns auch nur einen Moment getrennt zu sein. Man ist nicht in Evin, um den Zustand Hajj Aghas zu erleben, der über ihn kommt, wenn einer seiner „reuigen Sünder“, ungläubigen Gefangenen, der in diesem Krieg zum coup de grace aufgefordert ist, zitternde Hände kriegt und von einem Fuß auf den anderen tritt. Hajj Agha ist dann wie ein leidenschaftlicher Lehrer, der sieht, daß einer seiner Schüler gezögert hat. Er wird so von Fieber und Zittern erfaßt, daß er sich erst nach Stunden wieder beruhigt. Zweifel an der Teilnahme im heiligen Krieg sind keine Kleinigkeit.

Hajj Agha sorgt sich nicht, wie so viele gedankenlose Leute, über unseren kurzen Aufenthalt in dieser Welt. Er nimmt alle Mühen auf sich, um unsere Rettung im Jenseits zu erreichen. Täglich millionenmal in Jehannam zu brennen, eingehüllt in eine Wolke schwarzen, stinkenden Rauchs, so daß selbst die Höllenbewohner angeekelt sind vom Geruch deines brennenden Körpers - ist das etwa eine kleine Strafe? Setzt euch nur einmal abends mit Yunus zusammen und laßt ihn reden, wenn ihr eine genaue Idee von den Schrecken des Jenseits kriegen wollt.

Jedenfalls glaubt ihr doch nicht, daß Hajj Agha bei all den Mühen, die er für uns auf sich nimmt, sich auch noch Gedanken über sein Aussehen machen kann oder darüber, wie er vor den Fernsehkameras wirkt. Unsinn! Wir hier sind allesamt der Meinung, daß das Schwarzweißfernsehen einfach den lichten Charakter von Hajj Aghas Gesicht auslöscht. Wir haben es ihm schon hundertmal gesagt. Hajj Agha weiß, daß wir recht haben, und dennoch tritt er jedesmal wieder vor die Kameras. Wo findet man sonst noch einen Menschen so voller Selbstaufgabe? In all seiner Schönheit und Vollkommenheit wirft er sich diesen mörderischen Fernsehleuten vors Messer, einzig und allein zur Propagierung der islamischen Revolution, und läßt zu, daß sie sein Gesicht auf eine Art zeigen, die es häßlicher macht, als man es überhaupt für menschenmöglich hält. Ich habe mit eigenen Augen Mädchen gesehen, die so strahlend waren wie der Sonnenschein - wobei es natürlich in Evin nicht so leicht ist, Mädchen zu finden, die strahlen wie der Sonnenschein, einfach wegen des Mangels an Licht, Nahrung, den Schlafstörungen durch die übervölkerten Zellen, und dann dem monatealten Schmutz am Körper, das alles läßt der Haut wenig Glanz -, ich habe also schöne Mädchen gesehen, die selbst noch vor dem Bart des Hajj Agha katzbuckeln. Ja, und das in einem Ausmaß, daß man sich in die Finger beißen möchte vor Erstaunen! Hajj Agha ist für sie wie ein Vater. Er gibt ihnen fromme Bücher zu lesen. Er erklärt ihnen den Koran. Und natürlich läßt er sich nicht dadurch stören, daß währenddessen seine Wächter auf den Hintern der Mädchen aus purem Übermut auf- und abhüpfen und sie auf dem Auspeitschungsblock ausgestreckt liegen müssen. Er steht am Rande und man kann sein Kichern hören.

Also, was ist -, wollt ihr mir etwa immer noch erzählen, Hajj Agha ist häßlich und hat ein widerwärtiges Gesicht? Wenn ernste Reden euch zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgehen - was kann ich da machen? Ich sollte vielleicht noch etwas anderes erwähnen. Rasuli hat, soweit ich weiß, die Peitschenschläge gezählt. Schließlich war er darauf aus, seine Theorie zu beweisen. Er war sehr genau in Bezug auf den Schlag, der schließlich die neurologische Verbindung herstellen würde, um deren Untersuchung es ihm ging. Hajj Agha jedoch verteilt einhundert Schläge, zweihundert Schläge ohne Unterbrechung - aus purer Freude, die darin liegt. Hundert oder zweihundert Schläge - für Hajj Agha sind das keine großen Zahlen. Rasuli stellte nach Beginn des „Experiments“ dem Gefangenen seine wohlbedachten Fragen. Aber Hajj Agha ist nicht für Arithmetik und Regeln zu haben. Im Grunde haßt er jedwede Bürokratie. Für sein Geschäft hat er seine eigene theosophische Methode. Die wichtigsten Elemente sind für ihn Körper und Seele. Er peitscht so lange, bis er zu erkennen glaubt, daß die sündige, von Geburt an schlechte Seele sich aufzulösen beginnt. Wenn es soweit ist, läßt er ein wenig ab, um zu sehen, ob der Körper bereit ist, das anzunehmen, was er die frische, neue Seele nennt, oder ob er immer noch Widerstand leistet. Natürlich ist eine Geburt nicht ganz so einfach. Und daher ist es auch nicht besonders wichtig für Hajj Agha, was unmittelbar hiernach passiert. Während er sich schon um den nächsten Gefangenen kümmert, befiehlt er manchmal, daß der das Bewußtsein wiedererlangende Gefangene drei Tage lang an einem Arm aufgehängt werde, nämlich zur Erholung. Was für eine Gnade! Kaum zu glauben. Dieses Glück hatte ich leider nie.

Der Gefängniswärter Jamshidi betritt die Zelle.

Javadi bemerkt seine Ankunft als erster von uns. Mit einem Finger gibt Jamshidi Javadi ein Zeichen, ihm zu folgen. In seiner Verwirrung nimmt Javadi sein Buch und steht auf. Jamshidi sagt: „Nein! Laß dein Buch liegen.“ Javadi, der einigermaßen benommen ist, dreht sich im Kreis. Er legt das Buch auf den Boden und geht mit Jamshidi schnell aus der Zelle.

„Yunus“, frage ich ihn, „weißt du, was hier passiert?“ Yunus legt einen Finger auf den Mund. Ich frage Ahmad: „Was ist hier los? Weiß du, was passiert?“ Ahmad zuckt mit den Schultern und sagt: „Er hat wahrscheinlich Besuch.“ Aber ich kann nicht glauben, daß Javadi Besuch hat. Vor einigen Tagen hat er erfahren, daß seine Mutter in ein Krankenhaus mußte und seine Schwester bei Nachbarn untergekommen ist.

Ich sage: „Nein! Er hat niemanden, der ihn besuchen könnte. Um diese Zeit sowieso nicht!“ Ahmad antwortet: „Dann weiß ich es nicht.“ Yunus legt noch einmal einen Finger auf den Mund. Und wieder starre ich auf die Seiten meines Buches, um den Faden meiner Erinnerung wieder aufzunehmen.

Am ersten Tag wurde ich ununterbrochen geschlagen, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Die ersten hundert Schläge ließen jedes Gefühl aus meinen Füßen schwinden. Hajj Agha befahl ihnen, mich auf den Bauch zu legen, um mich um die Knöchel herum zu peitschen. Als die Schläge an Intensität zunahmen, kamen Schreie aus meiner Kehle, die keinem Laut ähnelten, den ein wildes Tier zustande brächte. Am vierten und fünften Tag gab es an meinem Körper keinen unversehrten Fleck mehr. Wenn ich irgendeinen beliebigen Teil meines Körpers berührte, durchschnitt ein so klingenscharfer Schmerz meine Seele, daß mir der bloße Gedanke ans Ausgepeitschtwerden unerträglich war. Statt meiner Fußsohlen hatte ich nur noch zwei große Löcher aus Blut und Knochen. Allein ihr Anblick jagte mir Schauer über den Rücken. Als die Wärter mich aus der Zelle schleiften, um mich zu Hajj Agha zu bringen, waren meine Augen erfüllt von mitleiderregender Verzweiflung. Ich konnte mir ausmalen, wie meine Augen aussahen. Ich versuchte, nicht an meine Wunden zu denken, als sie mich auf den Block legten. Aber es gelang mir nicht. Der erste Schlag, der mich traf, sandte einen Pfeil des Schmerzes bis in das Mark meiner Knochen. Die Laute, die aus meiner Kehle drangen, waren ein Gemisch aus Rufen, schrillem Heulen und Schreien. Hajj Agha stand ruhig da und sagte kein Wort.

Als sie mit mir fertig waren, sahen meine Füße nicht mehr wie Füße aus. Es brach mir das Herz, diese herabhängenden Fetzen von Blut und Fleisch zu sehen. In dem Augenblick, als Hajj Agha seine Hand hob und sagte: „Genug!“, fühlte ich, als wäre mir eine ganze Welt geschenkt worden. Alles, was ich wollte, war, so schnell wie möglich in meine Zelle geworfen zu werden, damit ich mit meinen Wunden alleinsein konnte. Aber Hajj Agha, der nahe an meinem Kopf stand, schaute sich meine mitleiderregenden Augen an und befahl den Wärtern weiterzumachen. An diesem Punkt war es, daß ich rief: „Hajj Agha, vergib mir! Ich tue alles, was du verlangst.“ Hajj Agha sagte: „Sage, daß du bereust.“ Ich antwortete: „Ich bereue, ich bereue, Hajj Agha!“ Hajj Agha in seiner Barmherzigkeit schaute auf die Wunden meines Körpers und sagte mit einem Kopfschütteln zu den Wärtern: „Laßt ihn.“

Ich war unfähig, mich hinzusetzen oder um irgend etwas zu bitten oder eine Frage zu beantworten. Mir war schwindlig und übel. Hajj Agha erlöste mich aus diesem Zustand. Er sagte: „Bringt ihn in seine Zelle. Wenn er durchkommt, werde ich zu ihm gehen.“

Es war die Zeit der Abenddämmerung. Als sie mich in die Zelle warfen, konnte ich das dunkle Grau des Himmels durch das kleine Fenster sehen. Meine Schmerzen waren so groß, daß ich mich nicht traute, mich zu bewegen, und noch schlimmer war das Leid, das ich fühlte über meine Hilflosigkeit. Ein Gefühl von Ohnmacht, vollkommener Einsamkeit und Angst hatte mich in seinen Fängen. Haß und Ekel gegen alles und eine gleichzeitige völlige Erschöpfung spaltete mir den Kopf und ließ mich zwischen Himmel und Erde hängen. Um mir Mut zu machen, sagte ich mir, daß ich, wenn Hajj Agha käme, den Mund nicht aufmachen würde. Aber der bloße Gedanke an die Peitsche und die Wunden an meinen Füßen schüttelte mich von Kopf bis Fuß. Herrgott, nicht einmal die Möglichkeit zum Selbstmord gab es. Selbst wenn ich etwas fände, mit dem ich mir das Leben nehmen könnte, würden mich die Wachen mittendrin erwischen. Es hatte ab und zu jemanden gegeben, der eine schmutzige Glasscherbe zu fassen gekriegt und sich mit ihr auf der Toilette die Adern geöffnet hatte. Aber dann war er höchstens grad erst ohnächtig geworden, wenn schon die Wärter auf der Schwelle erschienen. Das Leben läßt nicht so einfach von einem ab. Als ob es spätestens beim Todeskampf Mittel und Wege fände, die Qual zu verlängern. Bei dem Gedanken an eine Wiederaufnahme des Widerstands wagte ich nicht, meine Füße anzugucken.

Für einen Moment gab mir der Gedanke an Widerstand wieder ein bißchen Frieden. Also wirklich, ich kann mich doch nicht einfach in einen Hund verwandeln! Glaubt mir, diese Augenblicke in der Zelle sind unmöglich zu beschreiben. Ich dachte überhaupt nicht mehr an meine politischen Überzeugungen. Ich dachte an Lachen. Ich dachte an Glück. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder zu Glücksgefühlen fähig zu sein, falls ich jetzt jemanden verraten sollte. Ich stellte mir mich vor, wie ich mich in eine Ecke hockte, mit dunkler, gefurchter Stirn... und dieses Bild von mir selbst nagte wie ein Krebs an meiner Seele. Das war das erste Mal, daß mich meine Haut anwiderte. Meine ganze Existenz mich anwiderte. Ich hätte so gern auf meinen Füßen gestanden. Vielleicht wären mir, wenn das möglich gewesen wäre, bessere Gedanken gekommen. Ausgestreckt daliegend, konnte ich an nichts anderes denken als an die Peitsche. Was für ein gräßlicher, schrecklicher Zustand. Sie übergeben dich in der ganzen Schönheit deines Daseins der Peitsche - und das war's dann! Wieviel kann dieser Körper schon ertragen? Nicht von einer Kugel ist die Rede, die dir überraschend ins Hirn dringt und ein Ende mit dir macht. Die Schläge fallen weiter und weiter, stundenlang, und der Körper, der arme, verlassene Körper muß die ganze Last alleine tragen. Ich mußte an die Löwen denken, die in den Käfigen der Zirkusse gehalten werden. Ihr habt sie bestimmt einmal gesehen. Der Dompteur braucht nur den Käfig zu betreten und nur einmal mit der Peitsche zu knallen, schon springen diese mächtigen, vollmähnigen Tiere auf die Holzpodeste und zeigen alle möglichen Kunststückchen. Aber habt ihr euch schon einmal die Augen der Löwen in diesem Moment genauer angesehen? Habt ihr jemals darüber nachgedacht, wie schmerzlich ihre Unterwerfung ist beim Klang des Peitschenknalls? Und meine Haut ist nicht dicker als die eines Löwen. Der Anblick ihres gedemütigten Stolzes und ihrer verlorenen Größe rührte mich an. Der Anblick jeder Art von Stolz und Schönheit, die bedroht wird von der Peitsche, berührte mich. Und dann dachte ich: Verdammt noch mal, ich werde es noch einmal aushalten! Und ich schloß die Augen, damit ich nicht der Versuchung erlag, mir die Wunden meines Körpers zu betrachten. Bei dem Geanken an die gedemütigten, gestürzten Löwen brach mein Körper in kalten Schweiß aus. Ich sagte mir, daß, wenn Hajj Agha käme, ich so tun würde, als ob ich in tiefer Benommenheit läge. Ich werde vorgeben, nur gewußt zu haben, was ich tat, als ich unter der Peitsche schrie: Ich bereue, ich bereue!

Nach einiger Zeit fühlte ich mich wieder sicherer. Ich dachte, sie werden mich noch einmal holen. Ich zählte jede Sekunde, die verging. Wann immer ich das Echo von Schritten auf dem Flur hörte, setzte mein Herz für einen Schlag aus. Aber ich wünschte mir, daß Hajj Agha persönlich käme! Wenn er damals gekommen wäre, hätte mein Leben vielleicht einen anderen Verlauf genommen, wenn man bedenkt, wie ich mich in dem Moment fühlte. Vor Schmerz und ängstlicher Erwartung konnte ich daher die halbe Nacht nicht schlafen. Später konnte ich nicht mehr verstehen, wie ich hatte glauben können, daß sie mich für diese Nacht in Ruhe lassen würden. Ich hatte Angst davor, mitten in der Nacht verhört zu werden. Die Dunkelheit hat eine schreckliche Art, die Kraft des Menschen aufzusaugen. Wenn kein Fünkchen Licht mehr da ist, schlägt das Herz schnell - wie das einer ängstlichen Taube in den Fängen des Falken. Mir wurden die Lider schwer, als ich plötzlich mit einem harten Schlag auf den Kopf geweckt wurde. Die Wärter wußten, daß ich nicht die Kraft zur leisesten Bewegung mehr hatte. Zu zweit griffen sie mich unter den Achseln und schleiften mich aus der Zelle. Der Schmerz, der mich im Innersten durchfuhr, als meine Füße über den Boden schrammten, ließ mich unwillkürlich laute Schreie ausstoßen. Der entsetzliche, qualvolle Gedanke, wieder auf dem Block ausgestreckt zu werden, löschte jeden Widerstand aus. Ich sah mich um, ob vielleicht in irgendeiner Ecke eine Spur von Hajj Agha zu finden wäre und löste mich für einem winzigen Moment von der Angst vor der Peitsche. Aber es war, als ob Hajj Agha sich in Wasser verwandelt hätte und von der Erde aufgesogen worden sei. Und noch einmal legten mich die Wärter auf den Block. Diesmal ließen sie einen dünnen Draht vor meinen Augen einige Male hin- und herbaumeln. Wäre das ein Spiegel gewesen, hätte ich sicher meine Augen gesehen, wie sie aus ihren Höhlen tretend von einer Seite zur anderen mitschwangen und der Bewegung der Peitsche folgten. Dann fingen sie an. Nein, ich kann es nicht beschreiben. Drei oder vier Leute bearbeiteten mich und schafften es, mich genau auf die schlimmsten Wunden zu schlagen. Mein Herz schien zu bersten. Ich hörte plötzlich meine eigene Stimme, die nach Hajj Agha schrie. Ich war es und ich war es doch nicht. Mein Körper war dabei, den Geist aufzugeben. Er konnte einfach nichts mehr aushalten. Mein Körper selbst war es, der nach Hajj Agha rief. Wie kann ich das erklären? Ich war es nicht. Es war mein Körper, meine Haut. Oh, meine Haut! Im selben Augenblick erschien Hajj Agha, wie ein Engel. Mit meinen Hände, die nicht gebunden waren, ergriff ich seine Knie und bat inständig: „Hajj Afgha, Hajj Agha, laß mich nicht allein!“ Wie ein freundlicher Vater strich er mir mit der Hand über den Kopf und sagte: „Nein, mein Sohn! Ich werde dich nie verlassen. Niemals.“ Ich bat ihn: „Versprich es mir, Hajj Agha!“ Hajj Agha beugte sich nieder und küßte zart - oh, wie kann ich es beschreiben -, küßte meine brennende, schweißbedeckte Stirn. Nein, es ist zu schwer, die grenzenlose Liebe Hajj Aghas zu begreifen. Schlimmer noch, daß sie nicht verstehen, welch freundlichen Vater wir in ihm haben, der uns nicht eine Sekunde verläßt. Tag und Nacht ist er in Evin. Wäre denn einer von euch bereit, sein Zuhause und sein Leben aufzugeben und auch nur eine Stunde in diesen dunklen Fluren zuzubringen? Nein, doch gewiß nicht!

Ich fühle einen schnellen, durchdringenden Blick in meinem Nacken. Ich hebe den Kopf. Es ist der Gefängniswärter Jamshidi. Er sagt: „Allah segne dich heute morgen.“

Ich frage: „Ist irgend etwas Besonderes, Jamshidi?“ Und er antwortet: „Steh auf, steh auf, Javadi! Ich bin schon fünf Minuten hier bei dir. Schläfst du?“ Ich sage: „Jamshidi, du verwechselst mich. Ich bin Mohammad. Du weißt doch, Mohammad.“ Ich blicke um mich, kann aber weder Yunus noch Ahmad noch Baqer sehen. Das bestürzt mich. Der Wärter Jamshidi bückt sich und greift mir unter die Achseln. „Steh auf, Javadi. Halte dich nicht auf. Hajj Agha hat in der Gefängnismoschee ein Programm für dich vorbereitet. Steh auf!“ Ich sage: „Jamshidi, warum verstehst du nicht? Du hast doch selbst Javadi vor einer halben Stunde aus der Zelle geholt.“ Jamshidi steht da mit den Händen in den Hüften und sieht erstaunt aus. „He, Javadi, erzähl mir nicht, daß du jetzt ein Psychofall geworden bist!“ Ich antworte: „Glaub mir, Jamshidi, ich bin nicht verrückt. Ich weiß sogar, warum du Javadi herausgeholt hast. Glaube mir. Ich bin Mohammad. Ich bin Mohammad!“ Jamshidi zieht mich mit Gewalt hoch. „Hör mal, Bursche. Reuige werden nicht verrückt! Steh auf!“ Er gibt mir einen Schubs. „Schneller, schneller! Sie fangen schon an.“

Während ich neben Jamshidi hergehe, sage ich ihm: „Jamshidi, ich weiß, warum Javadi die Uhr von Wärter Sadeqi gestohlen hat. Ich weiß sogar, daß Javadi die Uhr gar nicht braucht. Er hat es mir selbst erzählt. Glaube mir, ich bin Mohammad.“ Jamshidi antwortet: „Halt endlich den Mund! Wir wissen das alles selbst.“ Ich sage: „Jamshidi, glaub mir. Javadi will sich nur selber prüfen. Er will herausfinden, ob er die Peitsche ertragen kann und ein für allemal seine Reue zurücknehmen. Glaub mir!“ Ohne mir zuzuhören, stößt mich Jamshidi durch die Tür zur Gefängnismoschee. Von einem Ende des Raumes bis zum anderen sitzen „Reuige“ aufgereiht. Sobald ich Javadi auf dem Auspeitschblock ausgestreckt liegen sehe, verläßt mich meine Furcht. Sie können nicht länger dementieren, daß ich Mohammad bin. Zwei „Reuige“ sitzen Rücken an Rücken auf Javadi. Ich sehe mich nach Yunus, Baqer und Ahmad um, weil ich bei ihnen sitzen möchte. Aber das hat gar keinen Sinn. Selbst als ich sie schließlich sehe, ist es nicht möglich durchzukommen, so dicht gepackt sitzt die Menge. Ich habe gar keine andere Wahl, als mich ans Ende der Reihe zu setzen. Hajj Agha steht bei Javadi am Kopfende. In der Hand hält er seine Gebetskette mit den großen Perlen. Auf einem Stuhl sieht man zwei Drahtpeitschen liegen - wie zwei dünne Wüstenschlangen sehen sie aus. Hajj Agha lächelt über das ganze Gesicht. Es scheint, daß er sich ein schönes, beglückendes Programm ausgedacht hat. Ich kann nicht recht glauben, was ich sehe. Aber vielleicht hat Hajj Agha noch nicht begriffen, was Javadi vorhat. Die Menge der „Reuigen“ kann vor fröhlicher Aufgeregtheit kaum stillsitzen. Sie recken den Hals und schneiden Javadi Grimassen. Hajj Agha schüttelt den Kopf und spricht zur Versammlung. „Wer ist bereit anzufangen?“ Die Stimmen der „Reuigen“ brechen hervor: „Ich, ich, Hajj Agha!“ „Hajj Agha, laß mich anfangen!“ Yunus‘ Stimme ist die lauteste von allen. Hajj Agha nimmt eine der Peitschen auf und nickt Yunus zu. Yunus springt auf und eilt aus der Menge. Mit einer Verbeugung nimmt er die Peitsche von Hajj Agha entgegen und hebt schon den Arm. Hajj Agha fängt ihn lächelnd mitten in der Bewegung auf. „Wie eilig du es hast, Yunus. Warte!“ Alle fangen an zu lachen.

Hajj Agha wendet sich der Menge zu und spricht mit gedehnter Betonung: „Wie viele Schläge soll jeder austeilen?“ Und wieder brechen alle Stimmen gleichzeitig hervor: „Hajj Agha, zehn“ „Hajj Agha, fünfzehn!“ „Zwanzig, Hajj Agha!“ Hajj Agha lächelt sein strahlendes Lächeln. „Welch guten Appetit ihr habt!“ Dann wendet er sich Javadi zu. „Bereust du oder nicht?“ Javadi bleibt stumm. Hajj Agha fragt mit einem Blick auf Javadi: „Wie wäre es mit fünf Schlägen für jeden?“ Javadi bleibt weiterhin stumm. Hajj Agha fragt: „Sechs Schläge?“

Javadi bleibt stumm. Einer der „Reuigen“ ruft: „Hajj Agha, laß es fünfzehn sein!“ Hajj Agha nickt zustimmend mit dem Kopf. Yunus fängt an. Seine Schläge sind heftig. Ich erinnere mich, wie er in der Zelle zu mir gesagt hatte: „Heuchler sind Götzendiener.“ Yunus teilt die Schläge mit großer Begeisterung aus. Wie ein echter Gottgläubiger. Ich fühle, wie es mir die Kehle zuschnürt. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Schließlich hebe ich meine feuchten Lider und heiße Tränen fließen meine Wangen hinab. ich habe nicht den Mut, Javadis Augen anzusehen. Javadis Lider müssen auch feucht sein. Ich senke den Kopf. Dann höre ich nur noch die Schläge. Den Klang der Schläge, wie sie fallen. Die Schläge, deren Zahl höher und höher wächst. Zwischen den Schlägen gibt es kein Nachlassen. Die die Schläge austeilen, stehen hintereinander aufgereiht, so daß es keine Pause für Javadi gibt. Vor meinen Augen breitet ein Nachtmahr seine Flügel. Ich sehe hungrige Hunde, deren Rippen unter dem Fell sichtbar sind vor Unterernährung, wie sie ihre Zähne ineinander schlagen und über die Beute miteinander kämpfen. Hajj Agha geht zwischen die Hunde, er hat gerötete Augen und trägt einen an der Spitze gezinkten Prügel, mit dem er die Hunde zur Räson bringen will. Jeder Schlag, den er austeilt, ist von einem schrillen kakaphonischen Lachen begleitet, das aus seiner langen, dünnen Kehle dringt. Ich halte es nicht mehr aus. Ich stehe von meinem Platz auf, um die Gefängnismoschee zu verlassen. Hajj Aghas Stimme nagelt mich fest. „Wohin willst du?“ Ohne den Kopf zu heben, bleibe ich stehen. Ich halte den Kopf gesenkt. Ich will nicht, daß einer meine Tränen sieht. Hajj Agha sagt: „Komm her und laß dich anschauen. Komm her, mein Kind. Komm näher, damit ich sehen kann, was mit dir ist.“

Die Schläge haben aufgehört. Ruhig gehe ich hinüber zu Hajj Agha und bleibe vor ihm stehen, direkt neben dem Block. Javadis Gesicht ist nicht mehr als zehn Zentimeter von meinen Armen entfernt. Auch Javadis Augen sind naß. Hajj Agha legt seine Hand unter mein Kinn und hebt mein Gesicht. „Weinst du, mein Kind?“ Ich starre ihn nur an. Hajj Agha fragt: „Warum weinst du, mein Kind?“ Javadi, der neben mir liegt, fragt mit halberstickter Stimme: „Mohammad, du weinst doch nicht etwa meinetwegen?“ Ich antworte: „Nein! Ich weine, weil sie so sind.“ Javadi sagt: „Deshalb weine ich auch!“ Hajj Agha ist überrascht. „Was!“ Offenbar hat er gehört, was wir gesagt haben. Die „Reuigen“ schreien los: „Hajj Agha, sein Körper hungert danach!“ „Hajj Agha, leg ihn auf den Block!“ „Hajj Agha, überlaß ihn Yunus!“ Alle lachen sie dabei. Ich weine immer noch. Heiße, brennende Tränen laufen mir über das Gesicht. Altbekannte Tränen. Tränen, die von tief innen emporquellen und mir aus den Augen hervorbrechen. Tränen, die meine kalten, toten Knochen erwärmen und sie nach und nach zum Schmelzen bringen. Ich fühle mich, als ob ich mich langsam und still häute, meine Hundehaut abstreife. Hajj Agha gibt Jamshidi, dem Gefängniswärter, ein Zeichen. Jamshidi nähert sich mit zwei anderen Wärtern, und sie heben Javadi vom Block und legen mich auf den Block an Javadis Stelle. Jamshidi flüstert mir ins Ohr: „Bereue, hör damit auf! Du weißt, was ansonsten mit dir passiert.“

Ich halte meine Lippen fest aufeinandergepreßt. Die Peitsche saust durch die Luft und fällt klatschend nieder. Obwohl ich die Augen geschlossen habe, fühle ich Hajj Aghas Gegenwart, ganz nahe beim Block. Oh, welch ein Augenblick! Die Schläge fallen. Ich beiße die Zähne aufeinander und halte die Lippen fest aufeinander. Hajj Aghas Kopf kommt näher. Jamshidi zielt auf eine einzige Stelle an meinen Füßen. Stechender Schmerz dringt mir bis ins Knochenmark. Hajj Aghas Atem gleitet mir über den Nacken. Ich öffne den Mund und all das Blut und den Schleim, der sich in ihm gesammelt hat, spucke ich ihm voller Verachtung ins Gesicht. Ich spucke... und dann weiß ich nichts mehr.

Nasim Khaksar (geboren 1944) hat 14 Bücher veröffentlicht. Er schreibt Ezählungen, Gedichte, Theaterstücke und Literatur für Kinder. Nach achtjähriger Gefängnishaft während des Schah-Regimes wurde er auch nach der „Islamischen Revolution“ wieder inhaftiert. Er lebt heute in den Niederlanden im Exil. Der hier abgedruckte Text (dessen Originaltitel etwa „Der Bigotte ist ungläubig“ lautet) ist die Titelgeschichte einer neuen, bisher unveröffentlichten Sammlung.

Einige Titel iranischer Literatur, die in den achtziger Jahren in deutscher Übersetzung erschienen sind:

Abi Anwari: Quelle der Nacht . Neue persische Lyrik. Zweisprachig, Edition Orient, Berlin

Cyrus Atabay: Prosperos Tagebuch. Gedichte. Mit Graphiken. Eremiten Presse, Düsseldorf

ders.: Salut den Tieren . Ein Bestarium. Mit Graphiken. Eremiten Presse, Düsseldorf

Farugh Farrochsad: Irdische Botschaft. Gedichte. Edition Zypresse, Niederdorfelden

Freidoune Sahebjam: Ich habe keine Träume mehr . Iran - die Geschichte des Kindersoldaten Reza Behrouzi. Rowohlt-Verlag, Reinbek

Said: Ich und der Schah . Die Beichte des Ayatollah. Hörspiele. Perspol, Hamburg

Touradj Rahnema (Hg.): Einer aus Gilan . Kritische Erzählungen aus Persien. Edition Orient, Berlin

ders. (Hg.): Frauen in Persien. Erzählungen. dtv, München