KARNEVAL IN GESCHER

■ An der 2-Promille-Hürde gescheitert - Feldforschung in Westfalen

Das ganze Theater fing damit an, daß ein italienischer Maler ausgerechnet in Gescher/Westfalen ein Bild im Rathaus malen sollte, das den lokalen Karneval darstellt. Er tat das auch und malte einen (klitzekleinen) nackten Bischof ins Bild, was prompt einen Provinztaifun erzeugte (vgl. taz vom 27.1.90). Der Maler hätte es ja auch besser wissen sollen: Gescher ist stolz auf seinen Karneval, (mit Umzug!), und den läßt man sich nicht mit klerikalen Nudisten veräppeln. Nun denn: meine Neugier war geweckt, vor allem, weil ein Protagonist des Streits die Meinung vertrat, das auf dem Bild Dargestellte sei zu Karnevalszeiten nachts um zwei durchaus lebendige Realität im Dorf. Die Feldforschung ergab folgendes:

Im Dorf herrscht Uniformzwang. Beispielsweise müssen alle jungen Männer weiße Söckchen, schwarze Glattledermokassins und ein spoilerbewehrtes GTI-Automobil tragen. Dazu vor allem aber: Schnurrbart! Jeder unter 40 hat einen, und das soll dem Gesicht was Charakteristisches, ja geradezu Camelmann-mäßig Abenteuerliches andichten. Meistens erinnert es aber nur an das Robbensterben. Es handelt sich hier aber keineswegs um Karnevalsmaskerade.

Die erste Kneipe, die ich untersuche, ist voll mit Holländern, die ihre Blasmusik mitgebracht haben. Während mir der Schaum vom Bier fliegt, erfahre ich, daß es sich um Jecken aus der Partnerstadt Neede (NL) handelt. Der mir das erzählt, drückt mir bei diesen mageren Worten gleich noch ein Bier in die Hand. Auf einmal: Heidenradau! Lambadatrommelnd schwanken die Holländer raus, um Aufstellung zu nehmen für den „Lindwurm der Freude“, i.e. Rosenmontagszug (der hier übrigens aus unerfindlichen Gründen zwei Wochen vor dem normalen Termin stattfindet). Alles schunkelt und wackelt, weil das Bier- und Schnäpschenschütten hier schon seit drei Tagen andauert. Die Geschichte mit dem nackten Bischof erscheint mir immer wahrscheinlicher, und dabei ist es gerade erst nachmittags zwei. Was hier pro Nase (!) an Alkohol weggeputzt wird, ist unmenschlich, warum sollte es da nicht auch noch andere Obszönitäten geben?

Der Zug selbst: 33 Wagen, zuzüglich Fußtruppen und Musik, ziehen mit Täterä durchs Dorf. Durchaus beachtlich, so eine Relation kriegt selbst Kölle nicht hin: 15.000 Einwohner und 33 Wagen. Wieviel Wagen das pro Kopf macht, kann ich aber schon nicht mehr ausrechnen. Das örtliche Gemeinwesen ist organisiert in Nachbarschaften, von denen jede einen Wagen beisteuert. Und zwar in traditionsbewußter Hackordnung. Da protzt gleich der erste Wagen: „Wir sind seit 15 Jahren dabei!“ Ein anderer kontert dagegen: „30 Jahre!“ Aber es ist alles vergebens: „90 Jahre!“ So ist die Ordnung wiederhergestellt. Der Fall der Berliner Mauer ist Thema, Erika Bergers Sexberatung bei RTL (Reklame, Titten, Langeweile), und der nackte Bischof, klaro. Dies erinnerte mich wieder an die Pflicht.

In der nächsten Gaststätte toben Opernfreunde. Verdi auf dem Land, gerade will ich in den Gefangenenchor aus Nabucco einstimmen: „Va pensiero, sull'ali dorate...“, da merke ich, daß mein Text nicht stimmt: „Ja, wir woll'n noch so gern einen heben...“ usw. Es hätte mich auch gewundert. Aber immerhin: Die nicht gerade triviale Melodie von knapp 100 Stimmen unter erheblichen Rauschbedingungen gesungen, das zeugt von einer gewissen Kreativität, die nur der Alkohol beflügelt. Von wegen „Idiotie des Landlebens“ (Karl Marx)!

Aber jetzt fangen die Leute an zu tanzen, und die ersten Einladungen in die Sektbar werden ausgesprochen. Da ich langjährige Berufserfahrung in Dorfkneipen habe, verlagere ich mein Untersuchungsgebiet: wenn's irgendwo nackte Bischöfe gibt, dann da! Während nun beim Tanzen die Leute durchaus Sinn fürs Praktische beweisen und beständig „Lambada“ fordern, weil mann da den Oberschenkel schon mal da plazieren kann, wo mann sowieso später hin will, ist die Situation in der Sektbar etwas schwieriger. Zwar ist der Ort bigott-schummrig erleuchtet, und so manche Hand (männlich) tastet, aber so manche andere Hand (weiblich) antwortet mit einem kräftigen Klaps. Nein, Pornoskandal mit unbekleideten kirchlichen Würdenträgern, hier nicht! Hier wird eher schon mal ein Ehekrach angebahnt, denn nur einmal im Jahr ist Karneval.

Zurück im Lokal, gerate ich in Verhandlungen über Bier und 800 (achthundert!) Schweine. Wie dem Wahnsinn Einhalt gebieten? Oh, Trunkenheit, süßes Vergessen, umfange mich mit des starken Freundes Arm! Kaum gedacht, recken sich schon mehrere Arme mit Bier in der Hand. Die Flucht an die Pommesbude nützt auch nichts. Da steht jemand mit einer Schnapsflasche in der Hand und verteilt an alle, die ihm bekannt vorkommen, gehirnauflösende Substanz, „damit die Bratwurst besser schmeckt“. Leider komme ich ihm bekannt vor. Der gerade niedergehende Schneeschauer verdünnt das „Körnken“ auch nur unbedeutend.

Der Rest des Abends verlief gleichermaßen fröhlich, wurde mir am nächsten Tag gesagt. Mein Schwager habe einen neuen Mantel mitgebracht (dafür sei sein alter weg). Weiterhin sei der Vertrag mit den 800 Schweinen unter Dach und Fach, am 29./30. Juni müsse ich morgens und abends das Borstenvieh füttern, aber es seien ja nicht viele. Von Verhandlungen mit einem zweiten Bauer, der immerhin 1.200 Stück davon habe, sei ich noch rechtzeitig weggezerrt worden.

Ich empfehle hiermit dem Bundesfinanzminister, Gescher von der, sagen wir mal, Lohnsteuer zu befreien, denn das überdurchschnittliche Aufkommen an Alkoholsteuer rechtfertigt dies allemal. Und an der Ortseinfahrt sollte Vergnügungssteuer erhoben werden. Das deckt dann die gesundheitlichen Folgekosten.

Cletus Ossing