Die Einsamkeit der Solidarität

■ Eine Reise durch die bundesdeutsche Solidaritäts-Szene in Nicaragua

Hermann Storm DIE EINSAMKEIT DER SOLIDARITÄT

Eine Reise durch die bundesdeutsche Solidaritäts-Scene in Nicaragua

Das Flugzeug setzt auf dem Flughafen A.C. Sandino zur Landung an. Ausgebrannte Panzer, Flugzeuge und Helikopter säumen wie Monster aus Kriegsfilmen die Landepiste.

Mit einem dicken Paket Cordoba-scheinen - Nicaraguas Inflation ist bekanntlich schwindelerregend - geht es ins Taxi. Es ist kurz vor dem Ende der Trockenzeit. Managua stöhnt unter einer kaum auszuhaltenden Hitze. „Das Wasser wird nur für zwei Stunden in der Nacht angestellt, manche Leute meinen, daß es bald überhaupt keines mehr geben wird“, meint der Taxifahrer. Als ich aussteige, will er 117.000 Cordobas haben und hat mich damit total übers Ohr gehauen.

Übernächtigt, bis aufs Hemd durchgeschwitzt, stehe ich vor dem Eingangstor der Herberge „Santos“. Hier trifft sich alles, was mit der Solidaritätsbewegung für Nicaragua zu tun hat. Auf der Veranda sitzt eine deutsche Frauenbrigade. Niemand schaut, niemand grüßt. Ich habe das Gefühl, in die heilige deutsche Solidaritäts-Scene eingebrochen zu sein, so nach dem Motto: Wir sind schon hier. „Wir unterstützen keine Diktatur“

Der überfüllte VW-Bus, eine Spende vom Deutschen Gewerkschaftsbund, setzt sich in Richtung Granada in Bewegung. Pit, vom Projekt La Cartonera, sitzt neben mir. La Cartonera ist eine Kartonfabrik, die zum größten Teil von der DGB-Jugend aus dem Raum Frankfurt finanziert wird.

Pit deutet auf eine Ansiedlung von kleinen Häusern und Hütten. „Da war vor zwei Jahren nichts, nur ausgedörrte Felder. Eines Tages kam ein Mann mit seinem Bett, stellte es mitten aufs Feld, am nächsten Tag schlug er vier Pfähle in den Boden, ein paar Tage später stand eine kleine Hütte da. Und dann kamen immer mehr und bauten sich ihre Häuser. Die Regierung enteignete den Großgrundbesitzer, legte Strom und sorgte für Wasser. Heute leben dort 500 Menschen, die vorher in Granada auf der Straße campierten.“

In seiner Stimme klingt ein zweifelnder Unterton mit, so als ob Pit sich durch solche Anekdoten selbst Mut zusprechen muß. Denn Nicaraguas Revolution ist zusammengesunken auf einen traurigen Rest von unvollendeten Einzelaktionen, auf Schulen, die halb fertig wieder aufgegeben werden, auf Puestos de Salud (Gesundheitsposten), für die es kein Personal gibt, auf Frauenhäuser, die vor der Schließung stehen.

Der Not gehorchend, droht der revolutionäre Geist der Anfangsjahre sich zunehmend aufzulösen. Das beste Beispiel sind die Campesinos auf dem Lande. Ihre wirtschaftliche Situation erlaubt es ihnen nicht, die Wälder in Ruhe zu lassen. Sie brauchen Holz und das Land heute. So roden sie ihren eigenen Untergang herbei, denn verschwindet der Wald, verschwindet das Wasser, verschwindet der Mensch. Da nützt auch alles Bewußtsein in Sachen Umweltschutz nichts, das in keinem lateinamerikanischen Land so ausgeprägt ist wie in Nicaragua. Die Senkung des Grundwasserspiegels um durchschnittlich fünf Meter in den letzten 14 Jahren spricht eine deutliche Sprache.

Später stehen wir inmitten einer kargen, ausgedörrten Landschaft vor einer Riesenhalle. Unter dem Dach hängen Myriaden von Insekten. Die Luft ist stickig und heiß, es stinkt nach Öl. „Die erste Kartonfabrik dieser Art in ganz Lateinamerika“, meint Pit. Er erklärt mir ausführlich, wie all die großen Maschinen funktionieren.

Als Robert, ein Solidaritätsarbeiter aus der Gegend von Stuttgart, mich Blondschopf von weitem kommen sieht, dreht er eine Maschine mit einem meterhohen Zahnrad voll auf und verschwindet bis zu den Hüften darunter.Ich sehe nur noch seine ölverschmierten Hände an einer Schraube herumwerkeln und sein abgetragenes T-Shirt, auf dem in schwarzen Lettern steht: Nicaragua debe sobrevivir - Nicaragua muß überleben. Als er wieder unter dem metallenen Koloß hervorkriecht, wischt er sich seine Hände am T-Shirt ab, rückt seine Nickelbrille zurecht und meint: „Was gibt's, haste wenigstens Tee aus Deutschland mitgebracht?“ Dann grummelt er, ob ich nicht mal den Buckel krumm machen könne, um einen Motorblock zu verschieben.

Er sei seit drei Jahren in Nicaragua und stehe kurz vor seinem Abschied. Wie ihm zumute sei nach dieser Zeit, will ich wissen. „Ich hab‘ hier Therapie gemacht, drei Jahre jeden Tag, wirklich, und sonst gar nichts. Das ganze Solidaritätsgequassel kann man sich doch sparen, wirklich, ich bin geheilt.“ „Wovon geheilt?“ „Hab‘ ich keine Lust, dir das zu sagen, ist meine Sache.“ Dann wischt er sich die Schweißperlen aus dem Gesicht und verschwindet wieder im Bauch einer großen Maschine.

Vor den Büroräumen stehen zwei Pakete mit Ersatzteilen aus Deutschland. „Wir haben sechs Monate gebraucht, bis wir sie hier hatten. Eigentlich sind sie in Deutschland Ladenhüter, die kauft kein Mensch mehr, weil die Maschinen gar nicht mehr gebaut werden. Sie kosten regulär 5.000 DM. Aber als der Firmenchef hörte, daß sie in Nicaragua gebraucht würden, hat er gesagt: 'Wir unterstützen keine Diktatur, sie kosten 50.000 DM.‘ Da es diese Teile aber nur noch in dieser Firma gab, blieb uns nichts anderes übrig, als sie zu kaufen. Wir haben sie dann noch auf 25.000 DM runterhandeln können, aber dafür mußten wir bei Solidaritätsgruppen in Deutschland betteln gehen, sonst hätten wir die Fabrik hier zumachen können“, erzählt Pit aus dem Projektalltag.

Unter dem zerfetzten Wellblechdach, direkt neben dem Halleneingang, sitzen Juan und Mario. Ein verrotteter, von Gras überwucherter LKW-Motor dient ihnen als Sitzgelegenheit. Als sie Pit und mich kommen sehen, lassen sie das Kartenspielen sein. Mit seinem abgetragenen, ausgedienten Militärhemd wischt Juan eine Stelle auf der Maschine sauber und bietet uns einen Platz an.

Juan erzählt, daß er vor der Revolution im Untergrund als Briefträger eingesetzt war. „Ich war noch zu klein, um das Gewehr zu halten“, lacht er fast entschuldigend. Als wir auf den Contra-Krieg zu sprechen kommen, wird sein Gesicht ernst. Nachdenklich vergräbt er seinen Kopf zwischen den Händen. Mit seinen Militärstiefeln, die beide klaffende Löcher haben, zeichnet er Spuren in den staubigen Sand. „Was es da zu fragen gäbe, fragt er verunsichert zurück. Er sei halt fast zwei Jahre im Krieg gewesen, es sei halt ein Krieg gegen den Imperialismus, der sei immer brutal, kommt die Antwort knapp zurück. Mario pflichtet ihm bei.

Was denn sein wird, wenn die deutschen Projektarbeiter eines Tages nicht mehr hier seien. „Oh ja, dieser Tag wird kommen, aber wir werden nicht Tschüß sagen, sondern 'bis bald‘. Wir werden das Ei schon legen.“ Die Gesichter der beiden haben sich wieder aufgehellt. In der Tat scheint es so zu sein, daß sie in ihrem Leben schon vor ganz anderen Problemen gestanden haben. Verstümmelte Leichen

am Mombacho

Am späten Nachmittag stehe ich vor dem Eingangstor eines herrschaftlichen Hauses. Es gehört zu Dietmar Schönherrs Projekt „Casa de los tres mundos“ (Haus der drei Welten).

Am Abend ist hier eine Fete. SolidaritätsarbeiterInnen feiern mit denen, denen geholfen werden soll. Es ist wie in einem Film, in dem die Dramaturgie durcheinandergeraten ist. Während Helmut in seiner Abschiedsansprache davon spricht, in neun Monaten den neuen Menschen nicht gefunden zu haben, leeren die Kinder in Windeseile die Kühlschränke und tragen unter ihren abgewetzten Hemden die eisgekühlten Coca-Cola -Flaschen zu ihren Familien. Während Deutsche mit Nicaraguanern Revolutionslieder absingen, von einer Revolution, mit der sie herzlich wenig zu tun hatten, erzählt mir Jan seine Geschichte im Umgang mit Brigadisten. Während Gioconda mit unwiderstehlichem Charme ihre Arme um meine Hüften legt und die nicaraguanischen Frauen versuchen, uns bewegungsgehemmte deutsche Männer in Schwung zu bringen, werden nicaraguanische Männer im Vollrausch über den polierten Marmorboden geschleift. Als das Fest dem Höhepunkt zustrebt, sitzen fein säuberlich getrennt Deutsche bei Deutschen, Nicaraguaner bei Nicaraguanern.

Gegen Mitternacht mache ich mich mit Martin, einem 21jährigen Maschinenbauschlosser aus einem kleinen bayerischen Dorf, auf den Nachhauseweg. Vor kurzem hat er von der örtlichen FSLN-Regierung eine Verdienstmedaille bekommen, die er ein wenig verlegen aus der Hosentasche zieht und mir zeigt. Für seinen unentgeltlichen Einsatz beim Aufbau der „La Cartonera“.

Als wir den altehrwürdigen Stadtpark erreichen, setzen wir uns noch eine Weile auf eine der knallrot gestrichenen Parkbänke. Über uns eine stilvoll geschwungene, schmiedeeiserne Laterne, vor deren Lichtkegel ein dunkler Schwarm von Moskitos hängt und den nächtlichen Park in ein schummriges Licht taucht.

Martin steckt sich eine dieser übelriechenden Zigaretten, made in Nicaragua, in den Mund. Mit seiner schlacksigen Figur, die ungelenk auf der Parkbank Halt sucht, dem strähnigen strohblonden Haar, dem unrasierten Gesicht und der über und über mit Flicken besetzten Jeans, die bei den abgetragenen Gesundheitssandalen endet, wirkt all dies im Schein der Laterne wie eine Szene in einem Theaterstück, die darauf wartet, zu Ende gespielt zu werden.

Ernüchtert und fast enttäuscht spricht Martin davon, daß es auch im „revolutionären Nicaragua“ ein Leben hinter dem Leben gäbe. Und so wirken in diesem nächtlichen Park von Granada die Revolutionslieder von vorhin wie der blanke Hohn, denn ich erfahre die entsetzlichsten Grausamkeiten, die ich je über dieses Land gehört habe. So gibt es allein in Granada über 1.000 Schwerstkriegsverletzte aus dem Contra -Krieg. „Unheilbar vom Krieg zerstört, dumpf-röchelnde Wesen, die apathisch im Bett liegen, die den Verstand verloren haben, die durchgedreht sind, als man vor ihren Augen Freunde erschossen hat. Geh‘ diese Straße runter, in die Barrios, da wo niemand hinkommt, da tobt der Krieg weiter“, endet Martin, seinen Arm in eine dunkle Gasse weisend.

Hinter den brüchigen Mauern dieser Behausungen herrsche die schiere Verzweiflung. Die Familien schafften es noch nicht mal, ihre Kinder satt zu bekommen. Sie sprächen davon, die Kriegsverletzten zu vergiften. „Und am Mombacho, da, wo die Touristen immer rauffahren, hat man schon verstümmelte Leichen gefunden“, sagt er weiter. Survival in Nicaragua

Jan, ein 46jähriger Solidaritätsarbeiter aus Berlin, ist auch einer von denen, die schon lange dabei sind. Er hat ein Schulprojekt mitaufgebaut und hat mitansehen müssen, wie alles wieder verrottet ist, weil niemand weitergemacht hat.

Auf der Veranda des weißgetünchten Bungalows spaltet er mit wuchtigen Schlägen Holzscheite auf. Seine graumelierten Haare sind zum Knoten gebunden, das Gesicht verschwindet fast ganz hinter dem Vollbart und der Brille mit getönten Gläsern. Auf dem Kopf trägt er eine schwarze Mütze a la Che Guevara. Schaut man sich ihn an, so könnte Jan gut und gerne aus einem gerade beendeten Überlebenstraining zurückgekommen sein. An seinem Gürtel baumelt eine komplette Survival -Ausrüstung: Kompaß, Fernglas, ein Wasserfilter, ein Schweizer Armeetaschenmesser, weiter Streichhölzer, die naß werden können und trotzdem brennen, Verbandszeug, Medikamente. Seine durchtrainierte Figur steckt in einer Militärhose, die vollgestopft ist mit all dem Überlebensmaterial, und seine Schuhe würden auch für Bergbesteigungen der schwierigen Art ausreichen.

„Mit Brigadisten will ich nichts mehr zu tun haben“, schaut er mit verbitterter Miene zu mir auf. „Manchmal denke ich, die sind nur gekommen, um zu hassen, ihre Defizite auszutoben. Es hört sich total lächerlich an, aber was mich wirklich zermürbt hat, ist was anderes. Daß man zum Beispiel meinen Tee, den ich aus der BRD mitgebracht habe, einfach weggetrunken hat, ohne mich zu fragen. Alles läuft so hart und so ohne Verständnis füreinander ab. Du bleibst allein, das zermürbt dich.“ Sonntagskreis von Managua

Sonntagnachmittag in Managua. Heute versammeln sich die SolidaritätsarbeiterInnen von Nicaragua im „Sonntagskreis“. Dieses Forum war ursprünglich gedacht zur Koordination sowie Information über die landesweiten Solidaritätsprojekte.

Wir treffen uns in einem Frente-Büro. An der Wand hängt ein schwarzrotes Transparent, auf dem in Deutsch geschrieben steht: „Die Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“. Die Porträts von Marx und Lenin stehen angestaubt in der Ecke. Einzig Sandinos Foto hängt über dem Türrahmen.

Offensichtlich hat man sich nicht mehr viel zu sagen: Von der stattlichen Zahl der etwa 150 Soli-ArbeiterInnen sind gerade mal vier Leutchen gekommen, später kommen noch zwei hinzu, mehr aus Zufall. Es wird über einen Artikel diskutiert, der unlängst im 'IDES‘ ('Informationsdienst El Salvador‘) erschienen ist. Eine deutsche Solidaritäts -Companera mit Sitz in Managua vertritt darin die Ansicht, die Soli-Arbeit einzustellen, da Nicaraguas Regierung immer mehr auf dem bürgerlichen Weg sei, Nicaragua IWF-Politik machen würde.

Man ist enttäuscht, daß aus dem einstmals bezärtelten Kind der Revolution nach gut zehn Jahren nur ein ziemlich häßlicher Sproß geworden ist, der einsam und verstört in der kargen revolutionären Landschaft herumsteht.

Die Argumente werden hin- und hergeschoben. Die einen reden vom Verrat an der Soli-Arbeit, den anderen fehlt eine gründliche Analyse des revolutionären Prozesses. Niemand weiß so recht, wie es dem anderen eigentlich geht in seinem Solidaritätsprojekt. Wie man sich gemeinsam helfen könnte.

Überhaupt, würde mich der surrende Ventiltor und die für unsere Verhältnisse viel zu klein geratenen Schaukelstühle nicht daran erinnern, daß ich in Managua bin, könnte sich dies alles auch zu Hause abspielen. Sachlich, kühl, die Luft ist geschwängert von der Aneinanderreihung politischer Statements.

Inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen. Nicaraguas SolidaritätsarbeiterInnen verstreuen sich vereinzelt in die Nacht, im Stillen klar darüber, daß das Ganze eigentlich nichts gebracht hat und man das nächste Mal auch nicht mehr kommen wird.

Schade. Denn so traurig ist die Solidaritätsarbeit doch gar nicht, seit damals im Dezember 1983 die erste Arbeitsbrigade in Richtung Nicaragua von deutschem Boden abhob. Die von den Contras bedrohte Regierung Nicaraguas hatte um Hilfe in der Kaffee-Ernte gebeten.

Oft belächelt und von den Medien als unverbesserliche Weltverbesserer bespöttelt, haben seither etwa 10.000 Deutsche, in den meisten Fällen auf eigene Rechnung, in Nicaragua Schulen gebaut, Krankenhäuser errichtet, Wasserbauprojekte initiiert, Straßen gepflastert, für Strom gesorgt. Erinnerungen an die Arbeitsbrigadenbewegung im spanischen Bürgerkrieg sind durchaus angebracht. 60 bis 80 Millionen Dollar jährlich umfaßt diese nichtstaatliche Entwicklungshilfe. Ein Vergleich dazu: Nicaraguas gesamte Exporterlöse betragen jährlich nicht mehr als 250 Millionen Dollar.

Längst hat diese internationale Solidaritätshilfe neue Maßstäbe gesetzt. Sie hätte es verdient, zärtlicher behandelt zu werden. Gäbe es da nicht auch die ausgetrockneten Kunststoffrohre, aus denen niemals ein Tropfen Wasser quoll. Die vielen buchstäblich im staubigen Sand Nicaraguas steckengebliebenen Projektruinen. Vielleicht, weil die rechte solidarische Hand nicht weiß, was die linke tut.