In Milenas Welt

■ Über Milena Jesenska - ein Ausstellungsparcours in Paris

Ariadne hat uns im Labyrinth zurückgelassen: „Klang und Licht werden Sie führen“, hatte sie orakelt. Doch erst mal ist es völlig dunkel im Parcours des Centre Pompidou, so dunkel wie unter dem Schutt von fünfzig Jahren Zeit- und Kriegs- und Literaturgeschichte. „Nur in ihrer ersten Jugend sind die Menschen zu Freundschaft fähig. Aber es geschieht auch, daß das Leben uns eine unbegreifliche Freundschaft auferlegt, die beim näheren Hinsehen gar keine ist“, tönt es plötzlich warm von der Decke. Aha, Hanna Schygulla ist der Cicerone, und sie läßt einen Scheinwerfer die munter plaudernden „Causeuses“ der Camille Claudel enthüllen. Wir stehen an der Schwelle zu Milenas Welt. Auf der Suche nach einer Existenz, die kurz, zu kurz, zwischen den Kriegen auftauchte, in Prag, Wien, Berlin, darauf im Dunkel Ravensbrücks verschwand und nur eine Spur auf dem Buchdeckel des Klassikers Franz K. hinterließ: „Briefe an Milena“. Darunter sieht man gewöhnlich eine Photographie, die elegische Schatten auf das glatte, offene Gesicht legt und Generationen von Kafkaphilen in mimetisches Schmachten versetzte und versetzt.

Doch Milena hatte einen Namen: Jesenska. 1896 geboren und wenig später frühreifer Bürgerschreck im verstaubten Prag, mit Männerkleidern, morphinen Selbstexperimenten und nächtlichem Bad am Ufer der Moldau. Von bedingungsloser Freigiebigkeit und Selbsthingabe sei sie gewesen, heißt es, über die Friedhofsmauer sei sie gestiegen, um ihrem ersten Geliebten Ernst Pollak Blumen zu bringen... Aber da ist Schygulla wieder: „Ich bin in einem Raum, wo niemand mich finden kann. Der Raum schließt sich über mir.“ Wir dringen ein in Milenas Raum, stehen vor einem Regal und überfliegen die Buchrücken, die kleinen Notizen, wie man es im Wohnzimmer eines kurz abwesenden Unbekannten zu tun pflegt. Milena hat geschrieben. 400 Artikel unter verschiedenen Pseudonymen in zwanzig Jahren journalistischer Karriere. Chroniken, Modeartikel, Korrespondenzen. Später redigiert sie eine Frauenseite in 'Narodni Listy‘, der großen konservativen Prager Zeitung. „Das einzige, was ich zu schreiben vermag, sind Liebesbriefe. Und eigentlich sind alle meine Artikel nichts anderes“, spricht es hinter der Schrankwand.

Das Licht lockt uns an einem Futon vorbei, um den herum gläserne Herzen aufgehängt sind. Nun ja. Milenas Ehe mit dem mondänen Bankangestellten und Freizeitlibertin Pollak jedenfalls ist ein Desaster.

In einem milchigen Prisma erscheint alsdann, unwirklich schwebend wie ein Hologramm, das Gesicht des Franz Kafka aus Prag, der von Milena zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden ist. Milena schreibt ihm aus Wien in seine Versicherungsanstalt und ist erstaunt, Antwort zu erhalten. „Er hat niemanden, der ihn schützt, und ist vollkommen unfähig zur Lüge. Wie ein nackter Mensch unter lauter bekleideten“, liest Hanna aus den Briefen von Milena, die, aus der Ehe in Drogen flüchtend, so sehr selbst Schutz bräuchte und nun auch den Projektionen eines fernen Literaten ausgesetzt ist: „Du, so lebendig, und doch in solcher Tiefe lebend“, schreibt Kafka. „Rückübersetzung aus dem Frz.!!“ Milena überredet Franz zu einem Treffen in Wien (der traut sich nicht, bei seinem Chef um Urlaub anzufragen) und überlegt, zu ihm nach Prag zu ziehen. Aber sie bleibt, vielleicht weil sie ahnt, daß sie Kafka nur Angst machen würde mit ihrer Lebendigkeit.

Milena trennt sich von Pollak, heiratet einen jungen Bauhaus-Architekten, schreibt „von sicherem Ort, mit einem spitzen Stift“. Sie wird Mutter und nach einem Skiunfall, der ihr ein Bein lähmt, morphinabhängig.

Die Politik dringt in jeden Raum ein in diesen Jahren, wie nasse Kleidung „klebt sie uns am Körper“ - und wie frische Wäsche sehen wir Milenas Artikel aufgehängt. 1931 tritt sie in die KP ein, nach den Moskauer Prozessen wird sie aus der Partei ausgeschlossen, weil sie die Sowjetunion kritisierte. In Prag erleidet und beschreibt sie, wie nach Anschluß und Besetzung jede Intimität unmöglich wird, wie die Möbel „der anderen“ auf die Straße gestellt werden, wie Kinder ihre Eltern bei Tisch ausspionieren. Die Spirale des Ganges im Centre Pompidou bricht plötzlich auf, grelles Licht fällt aus Spots von der Decke auf Spiegelfliesen am Boden, ein Säulengitter, in dem man sich nicht bewegen möchte: Place Publique; Verhörzelle der Gestapo. Die Stimme der Schygulla stößt nur noch Wörter hervor. Für Sätze ist kein Raum mehr. Milena wird wegen ihrer Artikel in den Untergrundzeitungen des Prager Widerstands verhaftet und stirbt in Ravensbrück am 17.Mai 1944.

Alexander Smoltczyk

„Vivre - Milena Jesenska“, Ausstellungsparcours in neun Räumen von Catherine Stahly Mougin und Gertraud Auer. Bis zum 25.Februar noch im Pariser Centre Pompidou, danach in Wien und Prag.