Muß des Lesens kundig sein

■ Erwartungen eines Zensors an Literaturkritiker

Sir Alexander Drawcansir, Ritter, Zensor von Großbritannien

Einer derzeit in meiner Obhut befindlichen Akte aus dem Amte des Zensors ist zu entnehmen, daß, laut zensurieller Umfrage vom Tricesimo qto. Eliz. durch einen meiner verehrten Vorgänger, nicht mehr als neunzehn Kritiker in den Städten London und Westminster gemeldet waren; demgegenüber belief sich die Zahl der Personen, die ein Recht auf diese Bezeichnung anmelden, bei der letzten Umfrage, die ich höchstpersönlich am 250. Geo. 2di. unternommen habe, offenbar auf 276.302.

Dieser enorme Anstieg kann, so meine ich, nicht anders erklärt werden als durch die äußerst verdammenswürdige Schlamperei vergangener Zensoren, die ihr Amt in der Tat in eine bloße Sinekure verwandelt haben; soweit ich weiß, fand seit dem Zensuriat Isaac Bickerstaffes, Esq. am äußersten Ende der Regierung von Königin Anna keine Umfrage mehr statt. (...)

Es ist meine feste Absicht, den Versuch zu unternehmen, diese Unregelmäßigkeiten zu korrigieren und den ehrwürdigen Sinn sowie die Würde des hohen Amtes, das ich bekleide, wiederherzustellen. Dies kann jedoch nur mit Umsicht und in kleinen Schritten geschehen: Denn gewohnheitsmäßige und eingefleischte Übel können nur durch allmähliche Abhilfe geheilt werden, und nicht durch gewaltsame Mittel. (...)

Mir schien es nicht weise, im Verlaufe besagter Umfrage irgendwelche Ausnahmen zu machen, und ließ also all diejenigen zu, die um Aufnahme nachsuchten. Es ist dies eine Methode, die ich hinfort nicht mehr praktizieren werde, denn ich habe den festen Entschluß gefaßt, die Qualifikationen eines jeden einzelnen Anwärters zu untersuchen.

Und damit alle Personen sich vorbereiten und ihr Anrecht auf den Kritikerorden unter Beweis stellen können, werde ich an dieser Stelle jene diversen Qualifikationen festlegen, die unerläßlich sind, bevor jemand zu jenem hohen Ehrenamte zugelassen wird. Dabei werde ich allerdings (...) mit äußerster Mäßigung vorgehen; denn ich bin bereit, die Tür, soweit ich kann, zu öffnen, so daß so wenige wie möglich abgewiesen werden.

Meines Wissens war es die Meinung Quintilians, daß niemand fähig ist, ein guter Kritiker eines großen Poeten zu werden, der nicht selbst großer Poet ist. Damit würde in der Tat die Anzahl der Kritiker, von Poesie zumindest, sehr stark herabgesetzt; und tatsächlich würden alle alten Meister von der Liste gestrichen, mit der Ausnahme von Horaz und Longinus: sagt doch Mister Pope von Letzterem - wenn der auch kein Poet war - so schön: Dich beflügeln alle Neune, großer Longinus / und segnen ihren Kritiker mit Poetenkuß.

Bei allem Respekt aber für einen so großen Namen wie den Quintilians, will mir diese Regel viel zu streng vorkommen. Sie scheint, in der Tat, kaum weniger rigide als die Verfügung, nach der kein Mensch das Kochen kritisieren darf, der nicht selbst ein Koch.

Von einem Kritiker zu verlangen, was gemeinhin Bildung genannt wird, ist schlechterdings ebenso absurd, wie wenn man Genie verlangte. Warum sollte ein Mann, in unserem Falle mehr als in allen anderen, durch irgendwelche Meinungen außer seiner eigenen gehalten sein? Oder warum sollte er nach Regeln lesen, wenn er nicht nach Regeln ißt? Wenn ich mich an einer Scheibe Rindsleber oder Oldmixon1 ergetze, warum sollte ich mich auf Schildkröte oder Swift beschränken?

Die einzige Fähigkeit, auf der ich daher bestehe, ist, daß mein Kritikerdes Lesens kundig ist; und dies ist doch sicher sehr vernünftig: denn ich kann mir nicht vorstellen, wie er sonst ein Leser genannt werden kann; und wenn ich zur Kategorie der Kritiker jeden Leser zähle, dann ist es sicherlich ebenso gerecht, jeden Kritiker in die Zahl der Leser einzubeziehen.

Und nicht nur die Fähigkeit des Lesens setze ich voraus, sondern auch die tatsächliche Ausübung dieser Fähigkeit; ich verbiete hiermit jeglicher Person, ein definitives Urteil über ein Buch zu fällen, sofern sie nicht im mindesten zehn Seiten darinnen gelesen hat, unter Strafe, für immer vom Eintritt in den Orden der Kritiker ausgeschlossen zu werden.

Drittens werden alle Kritiker, die vom ersten Tage des nächsten Februars an irgendein Buch zerreißen, dazu gehalten, einen Grund für ihr Urteil abzugeben: Noch wird es für solchen Kritiker genügen, Unsinn daherzuquasseln wie ich habe nicht die geringste Ahnung, aber eins weiß ich, mir gefällt das einfach nicht. Vorausgesetzt allerdings, daß jegliche Begründung, und sei sie noch so närrisch und wertlos, mit einer guten und ausführlichen Rechtfertigung versehen ist; ausgenommen nur die Worte armseliges Zeug, erbärmliches Zeug, dummes Zeug, trauriges Zeug, plattes Zeug, jämmerliches Zeug. All solch Zeugs verbanne ich auf immer aus dem Munde eines jeden Kritikers.

Auch gelte letzt genannte Bedingung nur für solche Kritiker, die ihre Zensuren öffentlich austeilen; denn es ist unsere Absicht, daß privat ein jeder die Freiheit haben soll, jedes Buch, welches auch immer, nicht zu mögen, ohne auch nur ein Wort davon verstanden oder gelesen zu haben, ungeachtet dessen, daß hier oder dort gänzlich anderes gemeint sein mag.

Da aber dieses Recht, für sich selbst zu urteilen, vernünftigerweise im Falle der Kritik nicht weiter ausgedehnt werden kann, als es Menschen unter anderen Umständen zugestanden wird, erkläre ich hiermit, daß ich in Zukunft keine Männer zum Amte des Kritikers zulassen werde, die nicht volljährig und also achtzehn Jahre alt sind, denn mit diesem Alter gesteht ihnen das Gesetz die Fähigkeit zu, über persönliche Güter zu verfügen: Von dieser Zeit besteht ja die einzige Verfügungsgewalt über sich selbst in dem trivialen Akt des Heiratens. Frauen werde ich möglicherweise etwas früher zulassen, vorausgesetzt, sie sind entweder geistreich oder hübsch, oder haben ein Vermögen von fünftausend Pfund aufwärts.

Zusammen mit Kindern schließe ich alle anderen gesellschaftlich Unmündigen aus; und damit meine ich nicht nur die gesetzlich definierten, sondern wirkliche Verrückte und Idioten. Zu dieser Kategorie zähle ich alle Personen, die der ganzen Art ihres Verhaltens nach nicht in der Lage sind, zwischen gut und böse, richtig und falsch, oder Weisheit und Dummheit zu unterscheiden, in was für einem Fall auch immer.

Dann wiederum sind da einige Personen, denen ich die Ausübung dieses Amtes nur partiell gestatten werde; so wird beispielsweise Wüstlingen, Gecken, Gaunern und vornehmen Damen strengstens verboten - unter Strafe ewigen Ausschlusses -, sich zu erdreisten, irgendein religiöses Werk, oder ein moralisches, zu kritisieren. Allen Rechtsanwälten, Ärzten, Chirurgen und Apothekern ist es strengstens untersagt, ein Urteil über jene Autoren zu fällen, die bemüht sind, das Gesetz oder die Heilkunde zu reformieren. Politikern, und solchen, die es werden wollen (ehrliche Männer ausgenommen), mit all ihren Mitarbeitern und Untergebenen, ihren Dienern und jenen, die es werden wollen, Zuhältern, Spionen, Parasiten, Informanten und Agenten, sei es, bei der genannten Strafe, verboten, ihre Meinung zu äußern über jegliches Werk, welches das Allgemeinwohl des Königreiches zu fördern beabsichtigt; was aber all die Pamphlete angeht, die sich irgendwie mit dem großen Anliegen der radikalen Partei und derpopulistischen Partei, Esqs. beschäftigen, so sei beiden Seiten völlige Freiheit gewährt, und die eine mag rundum rühmen und preisen, und die andere rundum zensurieren und verdammen, wie gehabt. Alle Kritiker, welche gegen diese Anordnung verstoßen, werden als niederträchtig erachtet, und ihre diversen Kritiken für null und nichtig und wirkungslos erklärt.

Kein Autor wird in den Kritikerorden aufgenommen, der nicht den Aristoteles, Horaz und Longinus in der Originalsprache gelesen und verstanden hat; und der nicht nachgewiesen, daß er von einem lebenden Autor - sich selbst ausgenommen wohlwollend gesprochen hat.

Letztlich sei allen Personen untersagt, bei Strafe unseres höchsten Mißvergnügens, sich zu erdreisten, irgendeines von jenen Werken zu kritisieren, mit denen wir uns höchstpersönlich der Öffentlichkeit anempfehlen möchten; und jegliche Person, die sich anmaßt, diese Besonderheit zu verletzten, wird nicht nur von der Liste der Kritiker gestrichen, sondern wird von jedem weiteren Orden, dem er angehören mag, ausgeschlossen; und fürderhin wird sein Name in die Annalen der Schreiberlinge von Grub -Street2 eingetragen werden.

(1752)

1 zeitgenössischer Autor

2 Das damalige Londoner Literaten-Ghetto. Grub Street Writers waren die literarischen Tagelöhner

Hinter dem Pseudonym „Sir Alexander Drawcansir, Ritter, Zensor von Großbritannien“, verbirgt sich der englische Romancier, Dramatiker, Kritiker, Satiriker, Journalist, Rechtsanwalt und Friedensrichter Henry Fielding (1707-1754), der die Zeitschrift 'The Covent Garden Journal‘ herausgab. Der hier abgedruckte Artikel ist der Ausgabe vom 11.Januar 1752 entnommen. Ausgewählt und aus dem Englischen übersetzt von Wigand Lange.