Zwischen Wirklichkeit und Traum

Die soziale Frage bleibt aktuell, auch wenn von der DDR nichts mehr zu retten ist  ■ D E B A T T E

Mag ja sein, daß von der DDR nun wirklich nichts, aber auch gar nichts mehr zu retten ist und daß alle Träume vom „dritten Weg“ mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus ihre Grundlage verloren haben. Mag auch sein, daß man nur noch mit einer gehörigen Portion Zynismus vom „demokratischen Sozialismus“ reden kann, wenn in jedem zweiten Fernsehstatement der Leute auf den DDR-Marktplätzen zu hören ist, daß man nun, nach 40 Jahren, von allen angeblich segensreichen Gesellschaftsexperimenten die Nase gestrichen voll hat und genau davon nichts mehr wissen will. Mag ja auch sein, daß jene Linksintellektuellen, die ihre „politischen Träume“ immer noch an eine wie auch immer gefaßte Zweistaatlichkeit, also an die Eigenstaatlichkeit der DDR binden, sich von der Wirklichkeit und damit von der politischen Bühne verabschiedet haben.

Mag auch sein, daß Ost- und West-Literaten wie Günter Grass, Stefan Heym und Christa Wolf irgendwie nicht mehr in die Zeit und ihre realen Machtverhältnisse hineinpassen und linksintellektuelle Wissenschaftler wie Altvater (West) und Land (Ost) nur deswegen vor der Blitzvereinnahmung der DDR warnen können, weil sie das reale Desaster der DDR-Ökonomie einfach nicht wahrhaben wollen. Aber es kann auch sein, Reinhard Mohr, daß eine Polemik gegen all dies keineswegs mehr Realitätsbezug, mehr politische Substanz, mehr Glaubwürdigkeit enthält als das zu Recht Kritisierte. Und es kann sein, daß die sich derzeit furchteinflößend abzeichnende Realität eines neuen, großen Deutschlands jene Träume schon sehr bald in neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung setzt, die von jeher der Reflex auf erfahrene Unfreiheit, soziales Elend, existentielle Unsicherheit und Ungerechtigkeit gewesen sind und die der Linken ihre politischen Motive gegeben haben.

Wenn es doch so einfach wäre wie in Mohrs Polemik: den realen Sozialismus - zu Recht natürlich - in Grund und Boden stampfen und der Hoffnung der Menschen auf Wiedervereinigung im oder mit dem realen, prosperierenden Kapitalismus Legitimät zusprechen. Wenn es doch ausreichte, die unwiderlegbare Widerlegung des Realsozialismus zum Ausgangspunkt für alle weitere Politik in Deutschland zu machen. Wenn doch aus der Negation des nun endlich Gescheiterten schon Kriterien für eine neue linke Politik erwüchsen. Aber ist damit etwas gewonnen für die Frage, was eigentlich eine wünschenswerte Zukunft in Deutschland sein könnte? Ist damit auch nur ein einziger Hinweis gegeben, wie jetzt eine freiheitliche, der Demokratie als Lebensform verpflichtete, der sozialen Wohlfahrt der Menschen in Ost und West dienende Politik aussehen müßte? Ist es eigentlich falsch, jetzt über eine humane, freiheitliche, sozial gerechte und ökologische Gesellschaft zu reflektieren (oder zu träumen), weil Honecker & Co. den realen Sozialismus in den Sand gesetzt haben und die Menschen damit nichts mehr zu tun haben wollen? Und ist die Warnung, ja die Angst vor der deutschnationalen Eroberungspolitik der derzeitigen Bonner Regierung nur deswegen unberechtigt, weil sie nicht mit Soldaten, sondern mit der Deutschmark einmarschieren will?

Es ist ungute deutsche Tradition, die nationale zur sozialen Frage in Gegensatz zu bringen. Und wo das Nationale über das Soziale gesiegt hat, wo die nationale Kraftentfaltung wichtiger war als die soziale Verfaßtheit der Gesellschaft, ließen die politischen Katastrophen nicht lange auf sich warten. Wie auch immer - nationalstaatlich oder zweistaatlich -, nicht die staatliche Existenzform der Deutschen ist entscheidend: die politische Freiheit und soziale Wohlfahrt der Menschen in Ost und West, innerhalb und außerhalb Deutschlands sind der einzige Maßstab, an dem Linke die politische Entwicklung messen können. Und da hat Günter Grass natürlich mit seinem Hinweis auf die verhängnisvollen Erfahrungen mit dem deutschen Nationalstaat tausendmal recht, auch wenn die Demonstranten von Leipzig nicht müde werden mit ihrem „Deutschland, einig Vaterland“.

Die Menschen in der DDR haben verständliche Gründe dafür, ihren Staat am liebsten sofort abzuschaffen. Ob sich dies letztlich als stabile Mehrheitsmeinung durchsetzt, wird sich erweisen, wenn die Bedingungen der Übernahme der DDR durch die BRD klarer werden. Vielleicht ist es dann für eine Option, die eine politische Resteigenständigkeit der DDR bewahren will, zu spät. Aber kann das für die Linke bedeuten, schon jetzt das Denken darüber einzustellen, ob den Menschen nun besser mit einem oder mit zwei Staaten gedient ist? Niemand wird letztlich beweisen können, daß wirtschaftliche Prosperität mit fortexistierender Zweistaatlichkeit nicht vereinbar wäre. Sie ist es nur dann nicht, wenn die Bonner Machthaber ihre wirtschaftliche Macht zum Hebel für ihre deutschnationale Eroberungspolitik machen. Daß sie dafür eine Basis in der DDR mobilisieren können, sollte am allerwenigsten wundern, sollte aber für die Linke kein Grund sein, eine derartige Politik nicht zu kennzeichnen.

Diese Strategie der Rechten, auch wenn sie sich auf die Volksstimmung berufen kann (was zu hinterfragen wäre), ist eine Aufforderung an die Linke zu vorausgreifender Reflexion über das, was jetzt an Politik aufgelegt und sich in den nächsten Jahren auf die Lebenssituation der Menschen hüben und drüben auswirken wird. Was ist mit der Angst der DDR -Frauen, daß ihnen der deutsche Einheitsstaat das Recht auf freie Abtreibung wieder nehmen wird? Geht es uns nichts an, daß die gezielte Zerrüttungspolitik der West-Regierung den Zusammenbruch des DDR-Staats gerade dort zu beschleunigen versucht, wo er soziale Rechte und Sicherungen für die Menschen formuliert? Was bedeutet es, wenn mit dem Hinweis auf den zweifellos notwendigen Aufbau einer Arbeitslosenversicherung die völlig berechtigten Ängste der Menschen vor den sozialen Konsequenzen der Massenarbeitslosigkeit beschwichtigt werden? Müßte dem nicht eine Politik entgegengesetzt werden, die Arbeitslosigkeit soweit wie möglich verhindert, statt sie zu forcieren? Müssen die DDR-Frauen keine Angst davor haben, wenn es das bisher noch in der DDR-Verfassung garantierte Recht auf Arbeit nicht mehr gibt und auf dem zukünftig kapitalistischen Arbeitsmarkt die Chancen - wie in der Bundesrepublik, nur auf niedrigerem Niveau geschlechtsspezifisch verteilt werden?

All diese und noch viel mehr Fragen kann man vielleicht zeitweise durch nationale Vereinigungsparolen übertönen. Aber verdrängen lassen sie sich schon heute nicht mehr. Auch wenn von der DDR tatsächlich nichts mehr zu retten ist und die Linke sich, so Mohr, nun endlich vom sozialistischen Traum jedweder Provenienz verabschieden muß: niemand nimmt ihr die Aufgabe ab, die sozialen Interessen der Bevölkerung jetzt und zukünftig zu formulieren und in den politischen Prozeß einzubringen. Und da ist durchaus nicht ausgemacht, daß das eilige, widerstandslose Aufspringen auf den rasenden Einheitszug für die Menschen immer die besten Ergebnisse bringt - selbst wenn man von allen machtpolitischen Bedenken gegen den deutschen Einheitsstaat absieht.

Niemand nimmt der Linken auch die Aufgabe ab - jenseits aller realsozialistischen, rechtssozialdemokratischen oder linkssektiererischen Traditionslinien des bürokratischen Sozialismus -, die sozialen Interessen der Bevölkerung in den Kontext einer politischen Freiheitskonzeption zu stellen, für die es gegenwärtig in der DDR möglicherweise mehr Ansätze gibt als in der Bundesrepublik. Kann sein, daß für so etwas die Zeiten im Moment schlecht sind. Aber diese Position aufzugeben, die Stimme nicht mehr für eine freiheitliche, gerechte, soziale, ökologische und friedliche Gesellschaft zu erheben, die politischen Bedingungen dafür nicht mehr zu benennen, ihre hier oder dort vorhandenen Ansätze nicht mehr zu verteidigen: das wäre der Verzicht auf die einzigen politisch-moralischen Werte, die die Linke dem großdeutschen Nationalismus entgegensetzen kann. Das hat nichts mit wirklichkeitsfremden Träumen zu tun, sondern ist in harte, tagesaktuelle Politik zu übersetzen. Aber vielleicht hat es doch - mehr als Reinhard Mohr erlaubt - zu tun mit den alten Träumen von Heym und Wolf und Grass.

Martin Kempe