Nach der Durststrecke in die strahlende Zukunft

Der Vorstand der DDR-SPD kürte Ibrahim Böhme zum Spitzenkandidaten für den Wahlkampf / Böhme spach sich für den „gestalteten Weg in die Einstaatlichkeit“ aus / Die Gemeinsamkeiten mit anderen Parteien und Gruppen in Oppositionszeiten sind der Wahlkampfrhetorik gewichen  ■  Aus Leipzig Mathias Geis

Wäre die bei politischen Großveranstaltungen in der DDR mittlerweile obligatorische Bombendrohung ausgeblieben, wäre die Eröffnung des Leipziger SPD-Parteitages noch unspektakulärer verlaufen. So aber verschaffte der fiktive Sprengsatz den 523 Delegierten und ihren zahlreichen Westgenossen gestern morgen zumindest eine außerplanmäßige Pause unter blauem Himmel, wie ihn der designierte Parteivorsitzende Ibrahim Böhme in seiner Eröffnungsrede für die Zukunft der DDR versprochen hatte. - Die Zukunft nach der Durststrecke.

Ansonsten sorgte nur die klare Vorstandsentscheidung für Böhme als neuen Spitzenmann der Partei für einige Überraschung. Das Votum von 21:3 Stimmen im Vorstand kam einer Demontage des Konkurrenten Marcus Meckel gleich, der bis zuletzt als ernstzunehmende Konkurrenz gehandelt worden war. „Ein Denkzettel für arrogantes Auftreten an der Basis“, kommentierte eine Delegierte. Meckel sei zu sehr Taktierer, kalkuliere zuviel. Böhme -auch er nicht der Wunschkandidat- gilt als Gradliniger, Integrativer. Ob am Ende Böhme neben dem Parteivorsitz auch der Spitzenkandidat für die Volkskammerwahl wird, bleibt dem Votum des Parteitages vorbehalten. Auch Walter Romberg, Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow, wird am Rande des Parteitages als möglicher Ministerpräsident in spe gehandelt.

Die Eröffnungsrede des Spitzenkandidaten Böhme „DDR im Auf und Umbruch“ bleibt eher gewunden, ein Versuch den Widerspruch aus Bewegung und Parteipolitik, aus Ermutigung und düsteren ökonomischen Perspektiven zu glätten. Erneut übt sich Böhme im Interpretationskunststück über den Aufbruch: Motto „Strukturen für die Revolution“. Will heißen: Erst die Sozialdemokratie gab dem Aufbruch Form und entwickelt sich konsequent zu seinem legitimen Sachwalter. Für neue sozialdemokratische Selbstgerechtigkeit hat Böhme zumindest einige dezente Spitzen parat: „Nicht viele befinden sich heute unter uns“, die schon 1968 mit dem Prager Frühling für die konsequente Reform eingetreten seien.

Mit der Eloge auf die Zeit der Illegalität hilft sich Böhme über das manchmal noch aufscheinende Unbehagen an der neuen Rolle hinweg. Doch wenn er dann, nach der Aufzählung aller Oppositionsgruppen, verspricht, man werde die alten Freunde nicht vergessen, dann klingt das schon eher nach einem sentimental eingefärbten Abgesang als nach einer Koalitonsaussage für die ehemaligen Bündnisgenossen.

Nicht Böhme, sondern der bislang erste Sprecher der Partei, Stefan Hilsberg, übernimmt den rhetorischen Wahlkampfpart und versucht die heftiger werdenden Angriffe von seiten der konservativen „Allianz für Deutschland“ abzuwehren. Von Gefängniswärtern im SED-Staat ist - an die Adresse der DDR -CDU - die Rede. Der Versuch des CDU-Vorsitzenden de Maiziere, die SPD als Komplizen der SED und den archimedischen Punkt im Selbstverständnis der Partei, die Zwangsvereinigung 1946, als freiwilligen Akt der Sozialdemokraten hinzustellen, bringt die Genossen auf die Palme. Von der Einheitseuphorie der letzten Monate scheint nicht mehr allzuviel übrig. Nur das große „D“, das die Stimmkarten der Delegierten schmückt, erinnert daran, daß noch vor wenigen Wochen auf dem Delegiertenkongreß in Berlin das Bekenntnis zur Einheit vielen schon als Lösung des Problems erschien. Böhme nimmt die gewandelte Stimmungslage in seiner Rede auf, verspricht ihnen den „gestalteten Weg in die Einstaatlichkeit“. „Gestaltet“, das meint neben den internationalen Aspekten den abgefederten Übergang. Worauf sich die Hoffnung auf Bonner Solidarität gründet, ist unklar. Auch bleibt Böhme die Antwort schuldig, wie seine Forderung „Währungsunion jetzt“ zu vereinbaren ist mit dem Anspruch einer SPD-geführten Regierung, als gleichberechtigter Partner in die Verhandlungen mit Bonn zu gehen.

Draußen vor der Halle jedenfalls, während der Bombenpause, dämpft die finanzpolitische Sprecherin der SPD, Ingrid Matthäus-Meier, im Gespräch mit Delegierten schon mal allzu hoch gesteckte Erwartungen an den künftigen Währungsverbund: Gleiche Löhne in West und Ost - das sei in absehbarer Zeit wohl kaum zu machen. Die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik würden kaum die Löhne für die DDR-Arbeitnehmer mitfinanzieren wollen. „Da springen meine Wessies ja aus dem Fenster“, prognostiziert Matthäus-Meier. Sozialverträglichkeit des Einigungsprozesses, das machen die Westgenossen am Rande immer wieder ernüchternd deutlich, hat für sie auch bundesrepublikanische Aspekte.

Marcus Meckel sieht da schon einen Interessenkonflikt mit der West-SPD heraufziehen, die ihrer Klientel wohl nur schwer Abstriche am wachsenden Wohlstand West für den Aufbau Ost vermitteln kann. Ernüchterung und Ratlosigkeit beherrscht die Delegiertengespräche, wenn es um die Finanzierung der Einheit geht. Keine Rezepte, keine Hoffnungsträger.