„Richtungsentscheidung in der Asylpolitik“

Das Bundesverfassungsgericht korrigierte die bisher gültige Rechtsprechung, daß Folter kein Asylgrund ist  ■ I N T E R V I E W

taz: Das Bundesverfassungsgericht hat am Donnerstag das heftig kritisierte „Folterurteil“ des Bundesverwaltungsgerichts revidiert, das seit 1983 die Asylrechtsprechung maßgeblich mitbestimmt hat. Welche Bedeutung hat diese Entscheidung der Karlsruher Richter?

Wolfgang Grenz: Das Bundesverfassungsgericht hat damit die sogenannte „Motivationslehre“ des Bundesverwaltungsgerichts verworfen. Diese Motivationslehre wurde 1983 entwickelt und besagte: ob die Verfolgung eines Flüchtlings strafrechtlicher Natur ist - und damit für die Asylgewährung unbeachtlich ist - oder ob eine politische Verfolgung vorliegt, hängt allein von den Absichten des Verfolgerstaates ab. Wenn also das Verteilen von Flugblättern laut Strafrecht eines Staat verboten ist, handelt es sich auch um eine strafrechtliche und keine politische Verfolgung. Nach dieser Motivationslehre wurde damals auch entschieden, ob eine Folter asylerheblich ist oder nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb 1983 entschieden, daß Folter und andere Menschenrechtsverletzungen nicht unbedingt ein Asylgrund sind. Es komme vielmehr darauf an, welche Absicht die Folterer haben: Will man mit der Folter zum Beispiel den Bestand des Staates schützen, indem man etwa Geständnisse erpreßt, dann ist Folter zwar bedauerlich, aber es fehlt der Wille des Verfolgers, jemanden aus asylrelevanten Gründen zu treffen. Die Karlsruher Richter haben nun gesagt, es komme darauf an, ob die Verfolgungsmaßnahmen an die politische Überzeugung oder die religiöse Gesinnung des Asylsuchenden anknüpfen.

Das Bundesverfassungsgericht ist aber jetzt nicht so weit gegangen, Folter generell als Asylgrund anzuerkennen, sondern spricht nur von Asylschutz bei Folter im Zusammenhang mit politischer Betätigung oder politisch motivierten Straftaten.

Dennoch ist die jetzige Entscheidung eine Verbesserung.

Welche praktischen Folgen hatte die bisher maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Asylverfahren?

Das Urteil hat damals wesentlich dazu beigetragen, daß die Zahl der Asylanerkennungen drastisch gesunken ist. Eine Reihe von Asylbewerbern, die politisch aktiv waren, in der Haft gefoltert wurden und sich hinterher auf diese Folter berufen haben, bekamen seitdem kein Asyl mehr.

Hat die Korrektur dieser Rechtsprechung jetzt für die Betroffenen noch Konsequenzen?

Für die einzelnen Betroffenen wird sie sicher keine großen Folgen mehr haben. Es muß in jedem individuellen Fall geprüft werden, ob es sinnvoll ist, das Asylverfahren nun neu aufzurollen. Ich glaube eher, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts allgemeine Bedeutung hat. Es ist ein bedeutender Schritt, daß eine Rechtsprechung, die seit Jahren kritisiert wurde, nun verworfen wurde. Entscheidend ist, daß der Menschenrechtsgedanke bei der Definition, was als politische Verfolgung gilt, nun wieder eine stärkere Rolle spielt. In dem Gefüge zwischen Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht ist es natürlich auch eine sehr interessante Tatsache, daß sich das bisher nicht sehr asylfreundliche Bundesverfassungsgericht dem Bundesverwaltungsgericht entgegenstellt. Es ist deshalb eine Richtungsentscheidung, die Folgewirkungen haben wird.

Interview: Vera Gaserow