Der Wettlauf um die Brosamen

■ Gehen Investitionen und Hilfen für Osteuropa auf Kosten der Dritten Welt? / Befürchtungen und Fakten

Produziert das „Tauwetter im Osten“ wirklich eine „Eiszeit im Süden“, wie viele Beobachter meinen? Das öffentliche Interesse für die Dritte Welt hat sichtlich nachgelassen, Hilfsorganisationen und betroffene Regierungen stellen sich schon darauf ein. Allerdings: Bislang sind es meist Befürchtungen, noch ist eine direkte Verdrängung bei Investitionen, Spendengeldern und Entwicklungshilfe nicht nachzuweisen.

Deutsch-deutsche Joint-ventures haben Konjunktur. Nachdem der erste Kooperationsvertrag über ein CD-Plattenwerk unterzeichnet ist, wird es wohl bald auch in der südlichen Hälfte der Erdkugel solche Gemeinschaftsunternehmen geben: Im Hungergebiet des südlichen Angola fehlen der Deutschen Welthungerhilfe Lkw, um ihre Lebensmittelieferungen in die Dörfer zu bringen - während gleichzeitig DDR-Lkw Marke Ifa am Straßenrand verrosten - wegen fehlender Ersatzteile. Ein paar hundert Kilomter weiter nördlich, in der Hauptstadt Luanda, drehen derweil 30 VEB-Mechaniker Däumchen - auch ihnen fehlt der Nachschub. Die Welthungerhilfe will nun die nötigen Devisen für Lkw-Ersatzteile spendieren, die DDR soll dafür ihre Kfz-Mechaniker ausleihen und anschließend die Lastwagen zwei Jahre lang für Lebensmittellieferungen zur Verfügung stellen.

Immerhin, ein kleiner Lichtblick ist es schon, wenn auf dem Boden der „Dritten Welt“ nicht mehr Kalter Krieg und Ost -West-Konkurrenz gespielt wird. Doch längst überwiegen für die meisten Länder des Südens die Schattenseiten von Entspannung und Perestroika. Nicht nur, daß die Sowjetunion immer weniger Interesse an der Dritten Welt zeigt, daß die DDR kaum noch Devisen lockermachen kann und zudem ihre politisch gezielte - Entwicklungshilfe für Afghanistan, Angola oder Nicaragua bei der Bevölkerung in Mißkredit gekommen ist, die von Sozialismusexperimenten auch im eigenen Land nichts wissen will. Vor allem fürchten Regierungen des Südens im Chor mit Hilfsorganisationen und Solidaritätsaktivisten, daß aus der Ost-West-Kooperation eine west-östliche Komplizenschaft wird.

Und das gar nicht mal im Sinne einer bewußten Verschwörung. Die gemeinsamen Interessen - ob europäisches Haus oder die vielfach beschworene globale Schicksalsgemeinschaft - liegen schließlich auf der Hand. Die Kaufkraft der Menschen Osteuropas ist größer, die Märkte dort sind vielversprechender als in Lateinamerika oder Afrika, wo in den achtziger Jahren ohnehin kaum noch investiert, dafür umso mehr herausgeholt wurde. Seit 1982 sind per Schuldendienst fast 200 Milliarden Dollar mehr aus Lateinamerika in den Norden geflossen als in umgekehrter Richtung.

Ost- und Mitteleuropa ist derweil zum Hemd geworden, das nicht nur Westdeutschen näher ist als der Rock. Die USA haben schon erste Gelder für Polen und Ungarn dem Topf für Auslandshilfe entnommen, auch von der OECD werden die beiden Länder bald den Status von Entwicklungsländern zugesprochen bekommen.

Auch in der Öffentlichkeit bei uns rücken die Länder des Südens gewaltig in den Hintergrund, seit Botschaftsbesetzer, KP-Begräbnisse und Wiedervereinigungsszenarien die Medien beherrschen. Zu spüren bekommen das zum Beispiel solche Hilfsorganisationen, die wie die Deutsche Welthungerhilfe (DWH) mit Großaufrufen des Bundespräsidenten ihre Spender suchen. Und die geben ihr Scherflein eben entweder nach Rumänien oder für Entwicklungsprojekte im Süden. „Wir haben“, rechnet Holger Baum von der DWH vor, „im letzten Jahr 20 bis 40 Kleinprojekte nicht finanzieren können, weil bis Mitte Dezember die Spenden gegenüber 1988 um 2,5 Millionen D-Mark, das sind acht Prozent, zurückgegangen sind“.

Weniger Probleme haben bislang kleinere Hilfsorganisationen Medico International, das Kinderhilfswerk Terre des Hommes oder die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt in Berlin. Sie haben in der Regel „treue Spender“, die sich nicht von der Tagesschau oder der jüngsten Naturkatastrophe umdirigieren lassen. Aber auch hier stagnieren die Überweisungen, und man rechnet mit Einbrüchen für die nächste Zeit. „Die Angst vor Umweltkatastrophen hat ja auch schon dazu geführt, daß viele jetzt sagen: Wir spenden lieber an Greenpeace“, ist von Yvonne Ayub, Mitarbeiterin bei Terre des Hommes, zu hören.

Möglicherweise ist der Höhepunkt der Ost-Euphorie auch schon vorüber, hüben wie drüben hat sich Ernüchterung eingestellt - und die Einsicht, daß wenig geholfen ist, wenn eine Städtepartnerschaft mit Nicaragua jetzt durch spontane Hilfsprogramme für Magdeburg oder Frankfurt/Oder ersetzt wird. In der DDR gibt es jedenfalls schon eine Gegenbewegung: Von dort wird die Gründung jeder Menge staatsunabhängiger Dritte-Welt-Gruppen gemeldet.

Michael Rediske