SOLLEN DICHTER SELBER DENKEN?

■ Am Wochenende tagten Wortemacher aus Ost und West im Literarischen Colloquium zur deutsch-deutschen Lage

Warum sollen Dichter nicht selber denken?! Haben sie nicht genauso ein Recht auf den einen oder anderen Gedanken wie etwa Metzger, Elektroingenieure, Tierärzte, Schreiner? Haben sie nicht das Recht, sich mit ihresgleichen zu treffen, am liebsten am Sonntag, um um runde Tische sitzend, rauchend sich zu erregen, nicht über die Unerträglichkeit des alltäglichen Daseins, das an solchen Tagen ja mitsamt den Frauen draußen bleiben muß, sondern über die jeweils drastischen Fehleinschätzungen, wie sie der Stammesbruder, der Tischnachbar regelmäßig von sich geben. Warum sollten also nicht auch Schriftsteller ab und zu an wirklich Wichtigem sich auf- und aneinanderreiben? Was denn hieße Demokratie, wenn nicht schließlich, daß sich jeder an der allgemeinen Weltlage abarbeiten dürfte? Denn eines ist sicher: Totalitäre Systeme kennen keine Stammtische. „Ich bin froh“, so freut sich die DDR-Schriftstellerin Elke Erb, „daß ich mich endlich mit den Hauptproblemen, die die Welt bestimmen, beschäftigen kann.“ Und so verhält es sich vielleicht gerade umgekehrt: Nicht der Verlust der Utopien wäre im Postnovember zu beklagen, sondern ihr Entstehen zu feiern. Utopie als „Utopos - ohne Ort“, damit kann nur der dem Alltag exterritoriale Stammtisch gemeint sein - von der oft für Paradigmenturbulenzen sorgenden Bierproblematik hier einmal ganz abgesehen.

Kleine Gedanken mit großer Leidenschaft auszusprechen, große Worte für kleine Beobachtungen zu finden - kurz: die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen (wie das dann ja immer so schön heißt), auch das zwischen der eigenen Größe und den Kleingeistigen dieser Welt - und dabei Pfeife zu rauchen, wenn sie bedächtig, mit sich selbst zufrieden, aber dennoch stets fragend sein wollen, Zigaretten (viele) mit Maispapier, wenn sie ein wenig leiden wollen, was ihnen doch auch ganz gut steht, oder Zigarren, wenn auch ganz dünne, eventuell Zigarillos: So trafen sich also am Wochenende an die vierzig professionelle Wortemacher aus beiden Teilen Deutschlands (immer schon junggebliebene altachtundsechzigjährige Endvierziger, vielredende Wenigschreiber, Neuwestler und Dennochkommunisten, Fresser derselben und asketische Kostverächter, Frührübergemachte und Dortgebliebene, Altverbandsfunktionäre und Jungpolitiker etc.) weit draußen in der Villa des Literarischen Colloquiums am Wannsee, um zwei volle Tage lang freiwillig „deutsche Fragen“ auf ihre Schultern zu laden, und irgendwie litten sie auch alle darunter, daß sie eigentlich inkompetent seien und ohnehin keiner auf sie hörte andererseits: Wer hört schon auf Metzger, Tierärzte, Elektroingenieure, Schreiner - und die Politik nicht ihre Texte läse, aber darauf dürften sie sich auch nicht zurückziehen, obwohl sie doch jetzt keine Aufträge mehr annehmen wollten, die Welt nicht mehr besser machen wollten. Oder wie? Oder anders: „Wer jetzt nicht in Krise ist, ist einfach ein Idiot.“ (Peter Schneider)

Dabei ist jetzt - wo der Sozialismus die längste Zeit realexistiert hat - doch auch die Stunde des Triumphs, der Befreiung, der Rache gar? Hans Christoph Buch etwa, einer unserer verkanntesten Dichter und neben Hans Joachim Schädlich und Uwe Kolbe Mitveranstalter der Selbstdenkergruppensitzung, um Gottes Willen nicht zu verwechseln mit der Selbsthilfegruppe, die Helga Königsdorf nach ihrem SED-Austritt gegründet hat, und in der sich nicht nur heimatlose Stalinisten als eigentliche Opfer beweinen dürfen, deren Larmoyanz nur von den siegessicheren und auf diese wiederum einprügelnden Westlern an Ekligkeit übertroffen wird - darf endlich alle Hemmungen fallen lassen. In seinen schriftlich für den ersten Tag mit dem feinsinnigen Motto „Demokratie oder Demokratisierung“ vorbereiteten „Fragmenten eines totalitären Diskurses“ verlangt er nicht nur endlich einen Vergleich (und was heißt das anderes als Gleichsetzung, oder wozu sollte die Operation sonst nützlich sein?) von Nationalsozialismus und Stalinismus durch „kompetente Historiker“, als hätte es nie einen Historikerstreit gegeben, er setzt auch noch schnell Egon Krenz mit Walter Jens gleich, weil letzterer einmal gesagt hätte, China sei weit, weshalb er sich darüber kein schnelles Urteil bilden könne, was wiederum Buch „abscheulich findet“ etc. Und all dies nur, damit der geschundene Buch, der doch schon immer alles besser gewußt hat und als Seher am Unverständnis seiner blinden Zeitgenossen sehr hatte leiden müssen und gar Beschimpfungen, er sei ein Neonazi, hatte hinnehmen müssen, endlich rehabilitiert wird: So hätten dann die Aufstände östlich von Bielefeld wenigstens die konkrete Lage dieses einzigen Menschen stark verbessert. Wenn auch nicht ganz zum jetzt so beliebten Nulltarif, wie Steuerzahler Buch schmerzlich vermerken muß: „Was mit dem ständig beschworenen Ausverkauf der DDR gemeint war, ist mir schleierhaft: Das einzige, was nach der Öffnung der Grenze ausverkauft war, waren die Bananen bei Aldi, und das Geld zu diesem Ausverkauf stammte von westdeutschen Steuerzahlern.“

Nein, wir wollen nicht verhehlen: Es gibt zwar immer noch Einwände gegen solche Buch-Handlungen und dessen kühne Thesen, eines jedoch ist „Konsens hier“ (wenn man einmal von einigen haltlosen Träumern und ewiggestrigen hartnäckigen Querdenkern absieht): Wir wollen sie doch alle, die Wiedervereinigung, und Leute wie Grass, der ja auch gar nicht da war, sind „Sektierer“ (Michael Schneider), was schon alleine wegen der damit ermöglichten Wiederentdeckung dieses schönen alten Wortes ja wiederum gewisse Vorteile, nicht nur abgrenzungstechnischer Art, bringt. Nun gut, es soll sich jeder bekennen, wie er mag, und wenn einer nach dem anderen unserer Stellvertreter, Laienbrüder und schreibenden Nationalgewissen das Bedürfnis hat, Zeugnis abzulegen und fortan nie wieder einem ideologischen Götzen dienen zu wollen, sondern nur noch dem Einen Ganzen, so ist er damit am Stammtisch richtig, dessen enge Verbindung zur Heiligen Messe nicht betont zu werden braucht. Indessen: die Entwürfe zu den Bestsellern „Der kleine Nationalökonom“, „Europäische Geschichte für Anfänger“ und darin besonders der Band „Die westdeutsche Linke und der kalte Krieg - eine unerkannte und ungesühnte Schuld“, „Wie werde ich noch heute der bessere Bundeskanzler“, „Volksnähe leicht gemacht“, „Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ oder „Altgriechisch für Demokratie- und Utopiedefinitoren“, die besonders am zweiten Tag, der unter dem Motto „Einheit oder Vielheit“ stand, reichlich aus den Spruchbeuteln gezogen wurden, hätten die engagierten Zöglinge doch besser ihrem Sozialkundelehrer vorgelegt, worüber der sich sicher sehr gefreut und diese intellektuelle Wohlstandsgefallssucht sicher honoriert hätte. Wolfgang Hegewald brachte die Diskussion jedenfalls auf den Punkt: „Das ist, wie wenn Sinologen über Differentialgleichungen diskutieren.“

Und während einige - allen voran Walter Höllerer - es für besonders praxisnah hielten, irgendwelche Kongresse über neu zu schaffende oder zu verschlimmbesserende Verfassungen zu organisieren - wofür wir ihnen hiermit doch schon mal rein vorsorglich auf die Finger klopfen wollen, weil sonst noch andere auf dieselbe Idee kommen, und mir nichts dir nichts ist es weg, das Asylrecht - lobe ich mir das Pragma der paar Frauen. Gaby Kachold aus Erfurt etwa geißelt nicht nur den aufrechten Gang, der doch wieder nur geradeaus geht, sondern will vor allem auch die Künstlersozialkasse in der DDR einführen, während die Exil-Tschechin Libuse Monikova sich jetzt, nachdem es erst einmal keine Möglichkeit der Subversion mehr gibt, als Schriftstellerin gleich ganz überflüssig fühlt. Doch siehe, da sprechblasen schon Männer zur Rettung des Dichters in schwieriger Zeit. Schädlichs Universalrezept: „Meine Chance ist die Utopie der Fiktion.“ Heißt dichten nachdenken, im Sinne von erst dichten, dann denken?

Aber wie gesagt, das Schöne am Stammtisch ist doch eigentlich, daß dort jeder alles sagen darf, weshalb man sich in ein paar Monaten möglichst gleich wieder treffen will. Und was inzwischen geschieht, weiß Hans Christoph Buch auch schon: „Wir passen auf, das ist, glaube ich, Konsens“. Jawoll, seid bereit!

Gabriele Riedle