Ihre Moral und unsere!-betr.: "Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus", und Leserbriefe hierzu, taz vom 6.2.90

betr.: „Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus“, und die weiteren LeserInnenbriefe, taz vom 6.2.90

Nach Meinung der UnterzeichnerInnen haben die „Berliner PhilosophInnen“ das Recht verwirkt, unbehelligt von sprachlosen Störungen denken zu dürfen. Sie sollen das Recht verwirkt haben, weil sie an die Kindestötung rührten, von der angenommen wird, daß sie archaischen Vorzeiten angehöre. Aber sie ist alltäglich. Ärzte, die ein behindertes Neugeborenes unversorgt liegen lassen, bis es tot ist, Eltern, die ihre Kinder schlagen, bis sie sterben oder Eltern, die ihre Kinder unbewußt ablehnen, bis sie am plötzlichen Kindestod sterben etc. praktizieren in unterschiedlichen Formen die Kindestötung.

Aber das scheint weitaus weniger zu schrecken, als die Vision, daß Frauen demnächst mit Hilfe von Gentechnik und Reproduktionsmedizin unter Kostennutzenaspekten nach „richtigem“ und „falschem“ Geschlecht, nach erwünschtem oder unerwünschtem, pflegeleichtem oder pflegeintensivem Leben über das Schicksal der Neugeborenen selber entscheiden könnten. Die Angst, daß Frauen egoistisch und nicht mehr aufopfernd handeln, scheint groß.

Diese Aussichten sind Anwendungen des Utilitarismus, wie ihn Singer vertritt. Nur: keiner will wahrhaben, daß Frauen das wollen könnten, was die Ärzte heute noch stellvertretend für sie und ihre Partner erledigen. Im Gegenstz zu Gabriele Hanna bin ich davon überzeugt, daß „über alles im Für und Wider diskutiert werden“ muß - also auch das Singersche Gebrauchswertdenken und die klammheimlichen Praktiken der Kindestötung.

Ein Tabu zu brechen, kann befreiend sein, aber nicht jeder Tabubruch muß befreiend sein. Aber warum ist das Reden über das Verbotene und Verdrängte für die UnterzeichnerInnen ein „tödlicher philosophischer Liberalismus“? Zum Glück sind Denken und Handeln doch zweierlei, auch wenn die Trennung mitunter schwer aufrechtzuerhalten ist. Nicht jede gewalttätige Phantasie ist eine grauenhafte Vergewaltigung und nicht jeder Wunsch auch schon dessen selige Erfüllung. JedeR einzelne kann sich vom Singerschen Denken befreien, und es politisch bekämpfen!

Warum also die ängstliche Gleichsetzung von Denken und Handeln? Neben den politischen Überlegungen zur Verführbarkeit zu rassistischem Denken spielt Angst eine große Rolle. Angst davor tot zu sein, wenn Mütter so handelten, wie Singer denkt. Sei's, daß sie beim Arzt gestatteten, daß behinderte Neugeborene zum Sterben zur Seite zu legen; daß sie sich nach einer Geschlechterbestimmung zur Abtreibung von Mädchen entschließen etc.

Diese Gedanken sind atemberaubend und zeigen, wie wenig selbstverständlich für unsere Gefühlswelt unsere Geburt ist und vor allem, welche Angst vor den Müttern besteht. Jeder Behinderte muß die Singerschen Thesen als die Wahrscheinlichkeit eines Todesurteil verhandeln. Allerdings unter der entscheidenden Annahme, die Singers affektbereinigtes Kalkül nicht nennt: daß die eigene Mutter dazu vielleicht sogar willens war, und wir ihr auch nachträglich nicht trauen. Vielleicht soll Singer totgeschwiegen werden, weil sein Tauschwertdenken uns darauf stößt, daß wir der lebenserhaltenden Seiten der Mütter weniger sicher sein können als wir es gerne wären. Wer hat nicht Angst vor „solchen Müttern“, zumal es zu den Gewaltstrukturen unserer Gesellschaft gehört, daß wir die Mütter idealisieren, damit es ihnen schwer fällt, ihre aggressiven und ablehnenden Seiten gegenüber den Kindern zu zeigen. Ein Recht, daß jeder Mann ungefragt sich nehmen kann.

Aber Singers Utilitarismus verweist noch auf einen anderen Widerspruch, der bislang unerwähnt blieb: Die brisante Parallele zum Tötungsvorwurf, der gegen die „AbtreibungsbefürworterInnen“ erhoben wird. Ist die Abtreibung möglicherweise eine Kindestötung von „unwertem Leben“ in Singers Sinne? Wer die Abtreibung als Tötung empfindet, wird es deshalb so unerträglich wie die „UnterzeichnerInnen“ finden, auch noch darüber diskutieren zu sollen, ob das abgetriebene Kind - wie die Juden, die in den Vernichtungslagern des Faschismus starben - „zu Recht als minderwertig galten“!

Wen wundert es deshalb noch, daß alle Vorwürfe gegen Singer in den letzten 15 Jahren bereits gegen die Befürworter der selbstbestimmten Abtreibung erhoben wurden: Euthanasie, Mord im Mutterleib, Faschismus, Selektion und wer „darüber“ diskutiert, liefert die Grundlage, damit „Vernichtsungspolitik öffentliche Akzeptanz gewinnt“!

Und die den Tötungsvorwurf erheben, haben ebenfalls die existentielle Angst auf ihrer Seite: Zumindest ahnen sie, daß sie unerwünschte Kinder sind, und nicht leben würden, wenn die heutige 218-Liberalität bestanden hätte, als ihre Mütter ungewollt mit ihnen schwanger waren.

Es zeigt sich auch hier, daß es höchst schwierig ist, über Theorien zu reden, die die eigene Existenz nachträglich in Frage stellen. Aber zum Reden, das sich dieser Angst und dem Mißtrauen gegen die Mütter öffnet, gibt es keine Alternative.

Denn wie anders wollen die UnterzeichnerInnen von denen viele „AbtreibungsbefürworterInnen“ sind, mit „AbtreibungsgegnerInnen“ reden, für die sie selber RepräsentantInnen eines „tödlichen philosophischen Liberalismus“ sind?

Prof.Dr.phil.Gerhard Amendt, Wien/Bremen