Jede Meinung ist erlaubt

■ Die neue Prager Zeitung 'Lidove Noviny‘ („Volkszeitung“)

In Brno (Brünn) 1892 gegründet, wurde 'Lidove Noviny‘ nach dem ersten Weltkrieg die intellektuell bedeutendste Tageszeitung der Tschechoslowakei. Von Anfang an der demokratischen Idee verpflichtet, unterstützte sie die Politik des Gründers des tschechoslowakischen Staates, T.G. Masaryk, wie später Präsident Benes. Nachdem sie 1939 eingestellt werden mußte, kam sie erst in der Zeit des Prager Frühlings zu neuem Leben; ihre literarische Sonntagsbeilage 'Literarni Noviny‘ war die wichtigste Plattform der sich neu formierenden politischen Kultur. Mit ihrem jetzigen offiziellen Wiedererscheinen nach mehr als zwanzig Jahren habe man vor allem dem Schriftsteller Karel Capek zum hundertsten Geburtstag ein Geschenk machen wollen, wird in der ersten Nummer vom 5. Januar gesagt. War doch Karel Capek 1921 mit seinem Bruder Josef von Brno in die Prager Redaktion gekommen - ihm ist es vor allem zu verdanken, daß die bis dahin eher unbekannte Zeitung zur geschätztesten des Landes wurde.

Capek veröffentlichte einen Großteil seiner Erzählungen in 'Lidove Noviny‘, aber auch zahlreichen anderen Schriftstellern (Bass, Langer, K.Z. Klima, Polacek und Peroutka) wurde Platz für Veröffentlichungen eingeräumt. Capek, so schreibt Ivan Klima in einem Huldigungsartikel, habe nicht nur bedeutenden Einfluß auf die Zeitung gehabt, sondern sei ihr konzeptioneller Denker gewesen; Toleranz habe ihm höher gegolten als konkrete politische Ziele. In der Zeitungsarbeit habe er mehr die formale als die inhaltliche Seite betont: Wir können nicht angeben, was zu schreiben, nur wie zu schreiben und zu denken ist: Das korrekte Schreiben war sein oberstes Ziel.

An diese Tradition versucht die heutige 'Lidove Noviny‘ anzuknüpfen: Nachdem sie vor zwei Jahren als monatlich erscheinende Samisdatzeitung von Dissidenten der Charta 77, darunter Vaclav Havel und Jiri Dienstbier, wiederverlegt wurde, hat sie im Dezember letzten Jahres mit der Nummer zwölf dem Untergrund ihren Abschied gegeben - das war zugleich die erste Nummer, die schon mit einer Auflage von 600.000 offiziell gedruckt und im Handelsregister eingetragen war. Ihr Chefredakteur Jiri Ruml und sein Stellvertreter Rudolf Zeman waren aufgrund ihrer illegalen publizistischen Tätigkeit bis zum 26. November in Haft; am 27. sprachen sie bereits vor der jubelnden Menge der Demonstranten am Prager Letna-Platz.

Jetzt hat 'Lidove Noviny‘ die Räume der Landwirtschaftszeitung 'Zemedelske Noviny‘ am Wenzelsplatz bezogen, die ihrerseits in das moderne Gebäude von 'Rude Pravo‘ übergesiedelt ist. Im Gegensatz zur DDR wurde hier das Parteivermögen bisher nicht angetastet, 'Rude Pravo‘ hat nach wie vor die höchste Auflage, auch wenn niemand sie liest, wie gesagt wird... Die Redaktionsräume sind kleine, etwas heruntergekommene Zimmerchen, notdürftig möbliert mit verschiedenen Modellen von 50er-Jahre-Schreibtischen. Die Telefonapparate klingeln in einem nervenden Dauerton, gebrauchte Schreibmaschinen wurden von irgendwoher spendiert. Längs der verwinkelten Gänge arbeiten 59 Angestellte, darunter 35 Redakteure, wobei alle Sekretärinnen weiblichen und alle Redakteure mit zwei oder drei Ausnahmen männlichen Geschlechts sind. Aufgrund der gesellschaftlichen Umstrukturierung ist auch bei 'Lidove Noviny‘ vieles im Fluß; der leitende technische Direktor wird vermutlich wechseln, Jiri Ruml in den Ruhestand gehen, Zeman Chefredakteur werden, mehr Journalistinnen sollen eingestellt, der Mitarbeiterstab verjüngt werden.

Gegenwärtig erscheint die Zeitung zweimal pro Woche, für Anfang April ist ihr tägliches Erscheinen geplant; auch 'Literarni Noviny‘ soll wieder Wochenbeilage werden. Alles hängt jedoch von technischen und organisatorischen Fragen ab: von neuen Räumlichkeiten für weitere RedakteurInnen, vom Papier, das gegenwärtig rationiert ist, von den Druckkapazitäten. Die Zeitung muß notgedrungen auf einer Maschine von 1936 gedruckt werden, die schon jetzt wegen Überlastung täglich ihren Dienst aufgeben kann. Die anfängliche Auflage von einer halben Million, die nach einer Stunde bereits vergriffen war, mußte aufgrund des Papiermangels bereits auf 300.000 gekürzt werden.

Der Übergang vom Samisdat zur offiziellen Tageszeitung sei nicht einfach, wird immner wieder betont. Es sei einfacher gewesen, zu dritt oder viert in einer Küche auf einer Schreibmaschine die Vorlage für die paar hundert Exemplare herzustellen, die dann unter der Hand vervielfältigt und weitergegeben wurden, es sei einfacher gewesen, mit der Autozensur zu leben als das heutige Terrain möglicher politischer Meinungsäußerung zu sondieren. Noch habe man Angst, zu weit zu gehen...

Man hat indes große Pläne: Nicht nur die Herausgabe weiterer Zeitschriften wie einer Studentenzeitung, eines Magazins für Rockmusik und einer Modezeitschrift sind geplant, auch ein Verlag wurde bereits angeschlossen, in dem in Kürze das erste Buch erscheint. Zu den Büchern, die in Vorbereitung sind, gehören die Essays von Vaclav Havel, Schriften von Jan Patocka und die Memoiren von Vaclav Cerny. Daneben ist die Einrichtung eines eigenen Nachrichtendienstes und eines Rundfunksenders geplant; die tschechische 'Lettre International‘ soll im Haus erscheinen; die Zeitung des Bürgerforums 'Forum‘ wird ebenfalls hier verlegt.

Unabhängigkeit ist das Stichwort, das die Zeitung im Untertitel führt und worüber sie sich zu definieren versucht. Unabhängigkeit meint zunächst eine finanzielle: nicht ein Prozent ausländische Kapitalbeteiligung ist erwünscht. Gestartet wurde die Zeitung mit einem Darlehen von zwei Millionen Kronen aus der Charta-77-Stiftung und einem Postdarlehen. Im weiteren meint Unabhängigkeit, so Ruml in einem Interview mit 'Rude Pravo‘, daß jede Meinung erlaubt sei, daß man keiner Partei und keinem Geldgeber verpflichtet sei, daß es keinen Zwang zu dieser oder jener Stellungnahme gebe. Man erlaube sich sogar Kritik am Bürgerforum, das immerhin die Gründung von 'Lidove Noviny‘ zu einem Zeitpunkt geschützt hat, als sie noch kein Rechtssubjekt war. So habe man die Tatsache als undemokratisch bezeichnet, daß Mitglieder des Bürgerforums den Schriftsteller Ludvik Vaculik vor der Versammlung auf dem Wenzelsplatz nicht sprechen ließen - vielleicht aus Angst, wie in einem Kommentar erläutert wird, daß er den Demonstranten ihre langjährige Verschlafenheit vorhalten könnte...

Die Zeitung, die auf den ersten beiden Seiten Fragen der Innenpolitik, auf den Seiten drei und vier außenpolitische Themen behandelt, und deren restliche vier Seiten Kultur, Sport, Leserbriefe, Wirtschaftskommentare und weitere innenpolitische Probleme umfassen, drängt auf engsten Platz ein Maximum an Schrift. In ihr gibt es wenig Fotos, die erste Seite zeigt unter dem Titel immer eine Karikatur; auffällig ist das Fehlen eines Leitartikels, großer gewichtender Überschriften; sie präsentiert sich in einem sehr dezenten Layout. Die zwei oder drei über die Zeitung verteilten Annoncen sind graphisch eingebunden. Sie ist großteils tschechisch geschrieben, es gibt jedoch auch slowakische Artikel; vertrieben wird sie im ganzen Land. Die Redakteure, zum großen Teil zusammengesucht aus dem intellektuellen Potential von 68 und herausgeholt aus Betrieben, in denen sie zwanzig Jahre lang zu Hilfsarbeiten verurteilt waren, arbeiten vorwiegend in Eigeninitiative, bringen Artikel und Kommentare zum Vorschlag, über deren Aufnahme auf die knappe Seitenzahl dann in der Redaktionskonferenz entschieden wird. Noch schlägt sich die Zusammensetzung des Mitarbeiterstabs aus vormaligen Heizern, Bulldozerfahrern, Portiers und Lagerarbeitern in einer gewissen Heterogenität der Artikel nieder. Gegen 'Lidove Noviny‘ wird häufig der Vorwurf der Intellektualität erhoben. Aufgrund ihres gehobenen Wortschatzes sei sie für viele nicht verständlich und verdiene somit ihren Namen als Volkszeitung nicht... Gegenwärtig füllt die Diskussion um das sudetendeutsche Problem zahlreiche Spalten: Die Nummer neun vom 3. Februar widmete drei Artikel der ersten Seite dieser Frage. In verschiedenen Kommentaren wird Havels Vorstoß der Entschuldigung für die Vertreibung der Sudetendeutschen und der inländische Protest darauf diskutiert. Man unterstützt weitgehend Havels Initiative, weil man mit einem geographisch benachbarten Land ein gutes Einvernehmen möchte, man erwartet jedoch eine Antwort des Gegenüber, denn „allein kann man keinen Tango tanzen“. Man entschuldigt die fehlende Reaktion der Bundesrepublik damit, daß dort die Diskussion vor vielen Jahren gelaufen sei, von der man in der CSSR nur nichts wisse... Im übrigen wird nicht so sehr die Tatsache der Vertreibung zurückgenommen als die Vorgehensweise: Man habe sich an Grausamkeit und Haßkundgebungen mit den Deutschen auf eine Stufe gestellt, man habe auf ihre nazistischen Methoden zurückgegriffen. Der Vorwurf aus der Bevölkerung, Havel wolle die CSSR an die Deutschen verkaufen, wird als fortbestehende Angst der Bürger vor der deutschen Pickelhaube erklärt und mit dem Argument entkräftet, daß an die Stelle der deutschen Pickelhaube heutzutage der gute Techniker und präzise Ingenieur getreten sei. Die Kämpfe mit den Deutschen werden solche der Konkurrenz sein müssen, wird gesagt; gewinnen wird, wer besser die Natur schützt, wer besser die Straßen säubert und die besseren Kartoffeln kocht... (Deprimierend: Ein „Miteinander“ gibt es auch nach den Revolutionen nicht. Ohne „Kampf“ halten es also die neuen Herrschenden auch nicht aus? d. Säzzerin)

Dennoch werden Reserven gegenüber der deutschen Wiedervereinigung angemeldet, da sie für die CSSR bedeuten könnte, daß die sowjetischen Truppen aufgrund des zuungunsten des Warschauer Pakts verschobenen Truppengleichgewichts nicht abgezogen werden. Im übrigen sei man mehr um gutnachbarliche Beziehungen mit Österreich und Ungarn bemüht, man erstrebe mit diesen Ländern eine Kultur und Wirtschaftsgemeinschaft, also eine Wiedervereinigung eigener Art...

Michaela Ott