„Die Regierung hat uns mit Gewalt vertrieben“

Ein Bericht aus den Lagern, in denen die von der irakischen Regierung deportierten Kurden heute leben müssen  ■  Von Hans Rinscha u. Ralf Schneider

Der alte Mann steht aufrecht vor dem Zelt, in dem er mit seiner Familie seit einem Jahr wohnt. „Wir sind aus dem Dorf Muwafaqiye im Gebiet von Bartalah. Wir wollten unser Dorf nicht verlassen, aber die Regierung hat uns gezwungen. Wir wollten bleiben, wo unsere Väter und Vorfahren gelebt haben. Ich hatte dort ein schönes Haus, hier leben wir im Zelt. Wir sind hier nicht zufrieden, es gibt keine Arbeit hier. Früher waren wir Bauern und hatten Herden, aber hier haben wir nichts.“

Während er mit verbitterter Stimme erzählt, sammeln sich eine Menge Leute um uns herum. Wir sind in der strategischen Siedlung Basirma im Norden der Provinz Erbil. Hunderte von kleinen, schmucklosen Betonhäuschen, die man hier in die Ebene gepflanzt hat. Weit und breit kein einziger Baum, der Wind fegt den Staub durch die Häusergruppen. Die Straßen sind nicht geteert, im Winter versinkt man hier im Schlamm, erzählen uns die Bewohner. 4.000 Familien leben hier, die meisten stammen aus den Dörfern in den umliegenden Bergen und wurden in den Jahren 1987 und 1988 von der Regierung deportiert. „Dort oben lag unser Dorf“, sagt ein junger Mann in kurdischer Tracht, der auf einer der Baustellen arbeitet, und zeigt in die Berge, „jetzt haben sie ein Militärlager daraus gemacht.“

In Erbil, nach offizieller Lesart die „Sommerhauptstadt des Irak“, empfängt uns der Präsident des Legislativrates der Autonomen Region Kurdistan, Baha'uddin Ahmad unter einem Porträt des allgegenwärtigen Präsidenten. Der Legislativrat, eine Art Parlament, verfügt zwar über ein stattliches Gebäude im Zentrum von Erbil, hat jedoch keinerlei Entscheidungsbefugnis. Ein Luxus, den sich die mit Petrodollars reich gewordenen Machthaber in Bagdad gerne leisten. „Die Umsiedlungen“, behauptet der Parlamentspräsident, der vorher Polizeichef in Suleymania war, „fanden nicht nur in Kurdistan statt. Auch im arabischen Teil des Irak wurden Bewohner grenznaher Dörfer evakuiert, um sie vor den iranischen Bombenangriffen zu schützen.“ Nicht um sie zu vertreiben, sondern im Namen des Fortschritts, so Ahmad, werden die Kurden aus ihren rückständigen Dörfern herausgeholt. In den „neuen Städten“ kämen sie in den Genuß von Schulen und Krankenhäusern, Wasser und Strom und Verkehrsmitteln.

Später, auf einem der Gäßchen im belebten Basar von Erbil, fragen wir einen der Verkäufer nach den Umsiedlungslagern in der Umgebung. Er blickt sich verstohlen um. „Dort ist es anders als hier in der Stadt“, sagt er leise, „die Leute hungern und leben im Elend. Die Behörden haben sogar verboten, daß die Bürger von Erbil Hilfsgüter dorthin schicken. Manche kommen hierher, um zu betteln.“ Das Gespräch ist schnell beendet, zu groß ist die Angst vor Spitzeln und Informanten. Wenn man ein Teehaus betritt, bricht das Gespräch abrupt ab.

Auf der kurvenreichen Straße von Mossul in Richtung Türkei, zwischen der Provinzhauptstadt Dihok und dem Grenzstädtchen Zakho, winden sich Kolonnen von Tanklastwagen durch die Berge. Ausgebrannte Wracks liegen im Straßengraben, die Erde ist schwarz von ausgelaufenem Öl. Die kurdischen Dörfer entlang dieser strategisch wichtigen Verkehrsader wurden bereits 1975 zerstört, ihre Bewohner umgesiedelt. Die Berge sind kahl, vereinzelt sieht man MG-Nester und Wachposten der Armee auf Hügeln und Berghängen zu beiden Seiten der Straße.

In Zakho sollen die kurdischen Flüchtlinge sein, die nach der Verkündung der Amnestie durch die Regierung in Bagdad aus den Lagern in der Türkei zurückgekehrt sind. 5.000 sollen in den letzten Monaten gekommen sein, sagt der Gouverneur von Dihok. Doch nur zwei von ihnen bekommen wir zu Gesicht. „Ich fühle mich wie neugeboren“, meint der junge Mann, der uns völlig verschüchtert gegenübersitzt. Er hatte sich als Deserteur in den befreiten Gebieten der „Demokratischen Partei Kurdistans“ (KDP) aufgehalten. Als die irakische Armee im August 1988 nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg diese Gebiete angriff, war er, wie alle anderen, die dort lebten, vor den Giftgaseinsätzen in die Türkei geflohen. Jetzt, nach der Rückkehr in den Irak, wolle er wieder in seinem alten Beruf als Fahrer arbeiten. Wo die anderen sind, die mit ihm zusammen über die Grenze gekommen sind, weiß er auch nicht. Aber ein offenes Gespräch erweist sich als unmöglich. In Anwesenheit einer stattlichen Zahl von finsteren Begleitern, die sich in Zakho zu uns gesellt haben, fallen ihm allenfalls Lobesworte auf den Präsidenten ein.

Im Hof seines Hauses empfängt uns ein anderer Rückkehrer. Er hat genau ein Jahr in dem Lager in Diyarbakir gelebt, wo 12.000 kurdische Flüchtlinge aus dem Irak untergebracht sind. Die Leute kehren zurück, weil es ihnen dort so schlecht geht, meint er. Vor allem, nachdem in einem der türkischen Lager mehr als 1.000 Menschen durch eine Lebensmittelvergiftung erkrankten, seien viele zurückgegangen. Wir fragen ihn, ob er den in der Türkei Ausharrenden raten würde, ebenfalls zurückzukehren. Nein, meint er vorsichtig, die europäischen Regierungen sollen ihnen helfen, damit sie dort anständig leben können. Auch er weiß nicht, wo man die anderen Rückkehrer hingebracht hat. Die Dörfer, aus denen sie im August 1988 geflohen sind, wurden von der irakischen Armee zerstört und eingeäschert.

In der fruchtbaren Ebene von Baziyan zwischen Suleymania und der Erdölstadt Kerkuk wurde früher Reis angebaut. Jetzt erstreckt sich links und rechts der vierspurigen Hauptstraße eine unübersehbare Menge flacher Reihenhäuschen. Saddam -Städte heißen diese Siedlungen, nach dem „Helden des Arabertums“ Präsident Saddam Hussein. Das Häusermeer ist von einem Netz breiter Straßen durchschnitten, die zum Teil beleuchtet sind. Eine überdimensionale Eigenheimsiedlung, die den Charakter eines Straflagers hat. Das Leben hier ist trostlos. Die Männer stehen in Gruppen zusammen am Straßenrand und warten. Selbst in der nahegelegenen Großstadt Suleymania finden sie keine Arbeit. Auch von der Landwirtschaft können sie sich nicht ernähren, da es zu wenig Anbauflächen in der Umgebung des Lagers gibt. Und die Rückkehr in die Berge ist ihnen ein für allemal verboten.

„Alles, sogar das Wasser, müssen wir bezahlen. An die tausend Familien in diesem Lager betteln. Wir wollten in unseren Dörfern bleiben, aber die irakische Regierung hat uns mit Gewalt vertrieben.“ Die Männer vom Pishder-Stamm sind verzweifelt und wütend. Man hat sie im letzten Jahr aus ihren Bergdörfern in die kahle Ebene Between in der Nähe der Stadt Rania deportiert. Diese strategische Siedlung mit Namen Hajiawa ist vielleicht die größte ihrer Art im Irak, mehr als 40.000 Menschen leben hier. Mit dem bloßen Auge ist sie nicht zu überblicken. Einen zentralen Platz gibt es nicht, entlang der Hauptstraße stehen die Männer vor den Wellblechbuden zusammen und warten darauf, für ein oder zwei Tage einen Job auf einer Baustelle zu bekommen. Traktoren mit Baumaterial und Kleinlaster donnern hin und her. „Wenn Du mich fragst, es gibt im ganzen Irak kein schlimmeres Lager als dieses“, sagt ein alter Mann, der sich durch die Menge zu uns gedrängelt hat. Er und die anderen Männer, deren Stammesführer früher auf Seiten der Zentralregierung gegen die kurdischen Rebellen gekämpft haben, berichten von der Massenarbeitslosigkeit und den Repressalien der Jash, der kurdischen Söldner, die hier das Sagen haben. Ohne Erlaubnis der Jash kann man das Lager nicht verlassen. Die Weiden und Wälder in der Umgebung des Lagers wurden von ihnen niedergebrannt.

„In Goptepe haben sie mit chemischen Waffen mehr als tausend Menschen getötet. Aus den 400 Dörfern von Aghdjalar hat niemand überlebt!“ Überlebende und Angehörige von Opfern der furchtbaren irakischen Offensiven im Frühjahr und Sommer 1988 sprechen offen aus, worüber sonst niemand zu sprechen wagt: Giftgas. „Wir durften diese Gebiete nie wieder betreten, niemand weiß, was aus den Verletzten geworden ist. Von ihnen fehlt jede Spur.“ Andere berichten über Tausende von Verschwundenen und Verschleppten. „Allein in der Ebene von Koy werden fast 3.000 Menschen vermißt“, erklärt ein junger Kurde mit leiser Stimme, „darunter sind fünf Brüder von mir.“ Die Angst verhindert, daß weiter über dieses Thema gesprochen wird. „Für das, was ich hier gesagt habe, werden sie mich hinrichten“, ruft einer, bevor er in der Menge verschwindet.

Südlich von Suleymania, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans im Irak, reiht sich ein Lager ans andere. Ihre Namen sind dem Jargon der herrschenden Baath-Partei entlehnt: „Sieg“, „Standhaftigkeit“, „Brüderlichkeit“...Ein weiteres Lager in Arbat, einem Dorf, in dem sich 1948 die kurdischen Bauern gegen den Großgrundbesitzer Sheekh Latif erhoben. Die Nachfahren des Sheekh warten heute im iranischen Exil auf bessere Zeiten, und die Dorfbevölkerung hat ihre damals erkämpfte Freiheit wieder verloren. Sie fristet ihr Leben in den Lagern dieser Ebene.

Von hier führt eine Straße östlich zur Stadt Halabdja, in der im März 1988 5.000 Menschen bei irakischen Giftgasbombardements zu Tode kamen. Die Stadt wurde im letzten Sommer vollkommen zerstört und das ganze Gebiet zur militärischen Sperrzone erklärt.

Neben der strategischen Siedlung „Brüderlichkeit“ ist ein letztes Dorf stehengeblieben. Die Bewohner sind Angehörige der Jaf-StammesKonföderation, die früher dieses Gebiet beherrschte. Nur noch wenige Menschen leben hier, die Häuser sind zum Teil verfallen. Auf der Rückseite des Dorfes frißt sich die Siedlung langsam heran. Bald werden auch sie umgesiedelt, das Dorf soll einer Erweiterung der „Brüderlichkeit“ weichen. Schon jetzt leben die Leute hier nicht mehr von der Landwirtschaft, sondern von Gelegenheitsarbeiten auf den Baustellen. „Wir werden gehen müssen“, meint einer der Bewohner resigniert, „was bleibt uns anderes übrig?“