Der gute Mensch von Italien

■ Im biblischen Alter von 93 starb am Wochenende „Sandro“ Pertini / Der ehemalige Staatspräsident war eine - nicht nur für italienische Verhältnisse - beispiellos integre Person

Rom (taz) - So überraschend kam der Tod des 93jährigen Alessandro „Sandro“ Pertini am Samstag abend dann doch, daß selbst der staatliche Rundfunk RAI keine Würdigung des ehemaligen Staatspräsidenten parat hatte. Statt dessen ratterte der Sprecher monoton die Lebensdaten des ewig quirligen, ewig volksnahen, ewig starrköpfigen Männleins herunter, das Italien für eine Weile ein anderes Aussehen zu geben vermocht hatte.

In der Tat liest sich Pertinis Biographie wie ein Portrait aus einer Welt, die Italien immer gerne verkörpern möchte und die dieses Volk doch gleichzeitig auch allzu ferne von sich vermutet: ein Mensch abhold allen Intrigen und Mauscheleien, einer, der sich rufen ließ und sich nirgendwo aufdrängte, ein Jurist, der stets auf der Seite der Schwächeren lebte, ein Politiker jenseits der Versuchung, sich mit Klientelwirtschaft und Ämterschieberei eine Basis innerhalb seiner Partei zu verschaffen - und der seinen Aufstieg just der Tatsache verdankte, daß er eben nicht ins traditionelle Schema paßte. Nicht zuletzt deswegen wurde er einer, dessen Wahl alsbald jeden Politiker reute, der ihn unterstützt hatte.

Geboren 1898 in Savona, also ein Nordlicht, wurde er gerade im „Mezzogiorno“ zum großen Hoffnungsträger, als er mit einem Brief an die Frau eines erschossenen Ermittlungsrichters in Palermo die Gründung der „Frauen gegen die Mafia“ ermutigte. Promoviert in Jurisprudenz und politischen Wissenschaften, umworben von den großen Firmen des Landes, verteidigte er lieber in einem legendär gewordenen Prozeß in den 60er Jahren die erste Frau, die sich als Hinterbliebene gegen die organisierte Kriminalität stellte. Sein Prozeßgegner war sein Vorgänger im späteren Amt des Staatspräsidenten, Giovanni Leone, der wegen des Lockheed-Skandals zurücktreten mußte.

Obwohl aus eher konservativem Haus, schrieb Pertini sich 1918 in die Sozialistische Partei ein (die damals noch nicht in PSI und PCI gespalten war). Beim Machtantritt der Faschisten wurde er zu acht Monaten Gefängnis und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Dort entlassen, arbeitete er sofort im Untergrund, sorgte für die heimliche Ausreise hoher linker Funktionäre, flüchtete zeitweise nach Frankreich, kehrte 1929 zurück, um wieder die Widerstandsbewegung zu organisieren. Doch nochmals wurde er für acht Jahre auf die Inseln Ponza und Ventotene verbannt, wo er zusammen mit Mitgliedern der christlichen Volkspartei und der Kommunisten Pläne für die Zeit nach dem Faschismus ausarbeitete. Dafür gab es dann elf Jahre Zuchthaus. Von den Nazis wurde er nach der Besetzung Italiens zum Tode verurteilt, entkam aus dem Zuchthaus in Rom und organisierte danach in Mailand die Erhebung vom 25. April 1945.

Obwohl überzeugter Sozialist und der langen Moskau -Hörigkeit der Kommunisten abhold, arbeitete er doch zeitlebens für die Links-Alternative, um die „Demokratie durch einen Machtwechsel weg von der Democrazia Cristiana zu vervollständigen“. Mitte der 70er Jahre gehörte er mit Moro (DC) und Berlinguer (PCI) zu den Verfechtern des „historischen Kompromisses“, der Allianz aller demokratischen Kräfte zur Überwindung der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes. 1978, als Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt wurde, sagte er sich unverzüglich vom Kurs seines PSI-Sekretärs Bettino Craxi los, der im Gegensatz zu allen anderen Parteien Verhandlungen zur Rettung Moros forderte. Pertini vermutete zu Recht, daß sein Parteichef darin weniger humanitäre Absichten als eine wählerwirksame Aktion suchte. Doch genau dieser Dissens brachte ihn wenig später ins Amt des Staatspräsidenten: Der von den Sozialisten vorgeschlagene Kandidat Giuliano Vassalli (derzeit Justizminister) war für Verhandlungen eingetreten, und die „Partei der Härte“ aus Christdemokraten und Kommunisten sah ihm dies nicht nach. Pertini wurde der einzig „wählbare“ Sozialist.

Er begann sein Amt in gewohnt ungewohnter Weise: Es liege ein Brief parat, ließ er wissen, in dem er im Falle einer Entführung jegliche Verhandlung zu seiner Freilassung ablehnte. Außerdem solle seine Frau weiter ihr Eigenleben führen und nicht als „First Lady“ mißbraucht werden. Als die Politiker alle paar Monate neue Regierungschefs sehen wollten, schickte Pertini den jeweiligen Amtsinhaber ungerührt ins Amt zurück. Mauschelten sie, zog er auch seine eigenen Leute an den Ohren - Bettino Craxi wurde zu seinem Intimfeind. Dafür aber konnte er sich in der Liebe seines Volkes sonnen: Er war der einzige Politiker, den die Palermitaner bei der Leichenfeier für den ermordeten General Carlo Alberto dalla Chiesa nicht anspuckten.

An einer Stelle hakte es jedoch auch bei Pertini aus: Mitgliedern des „Bewaffneten Kampfes“ oder solchen, die er dafür hielt, wollte er, der doch selbst im Untergrund gekämpft hatte, niemals vergeben. Als der sozialistische Minister Gianni de Michelis in Frankreich zufällig den dorthin geflohenen Autonomen-Führer Toni Negri traf und seinen ehemaligen Studienkameraden grüßte, fragte ihn Pertini, ob er sich denn danach die Hände gewaschen habe. Und als er kurz vor Ende seiner Amtszeit 1985 eine Frau aus dem allerweitesten Umfeld der Roten Brigaden begnadigte, entschuldigte er sich öffentlich dafür: Er habe nicht gewußt, daß sie eine Terroristin sei.

Werner Raith