Der SPD fehlte die Lust an der Debatte

Die Sozialdemokraten der DDR verabschiedeten Wahl- und Regierungsprogramm / Stufenplan für Vereinigung vorgelegt / Böhme Vorsitzender und Spitzenkandidat / Brandt wurde Ehrenvorsitzender / Von Wahlkampfstimmung war nichts zu spüren  ■  Aus Leipzig Matthias Geis

„Ich habe hier nicht die Absicht, mich für meine ehemalige SED-Mitgliedschaft zu entschuldigen.“ Mit einem Anflug von trotzigem Stolz präsentierte sich Ibrahim Böhme, einziger Kandidat für den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei, den Delegierten des ersten Parteitages. Er setzt unmittelbar vor dem Wahlgang den Kontrapunkt gegen den - auch in der SPD spürbaren - Hang zur kompromißlosen pauschalen Ablehnung all dessen, was auch nur entfernt an die ehemalige SED erinnert. „Ich habe in dieser Partei“, fährt Böhme fort, „viele Menschen kennengelernt, vor denen ich den Hut ziehe. Ich würde mich schämen, wenn ich das vergessen würde.“

Das muß unweigerlich Widerspruch provozieren. Erst indirekt: Ein Delegierter will zwischen zwei oder mehr Kandidaten wählen. Ein anderer spricht sich gegen die „Vorabstimmung mit Blitzlichtern und stehenden Ovationen“ aus. - Dann zur Sache: „Es fällt mir schwer“, so ein Delegierter, „mich in einer Partei voll zu engagieren, deren Vorsitzender sich als 'alternativer Marxist‘ bezeichnet“. Auch die Formulierung aus Böhmes Eröffnungsrede „Heimatland DDR“ stößt auf Kritik: „Mein Heimatland ist Thüringen und Deutschland“, bekennt einer. Doch obwohl in vielen Redebeiträgen auf dem Parteitag landsmannschaftliches eingestreut wird, und die regionale Verwurzelung der Delegierten eine nicht unerhebliche Rolle im Personalgeschiebe der neuen Partei spielt, erntet der Überzeugungs-Thüringer Buh-Rufe. Auch der mehrfach geforderte Gegenkandidat findet sich - trotz verlängerter Antragsfrist - nicht. Neben kritischen Stimmen zur Person fühlen sich manche auch zu eher merkwürdigen Elogen ermutigt: Ibrahim Böhme sei der einzige, so der Delegierte Reiner Hartmann, „der uns mit Ehre und Anstand in die Einheit führen kann.“

Böhme erhebt vor der Wahl Anspruch auf beide Ämter, Spitzenkandidatur und Parteivorsitz. Und dann - in Replik auf die Personaldebatte - ruft er zur Versöhnung auf, „nicht zwischen SPD und PDS, sondern zu einem Versöhnungsprozeß im gesellschaftlichen und persönlichen Sinne. Wenn wir sagen, vor Sozialdemokraten müsse niemand Angst haben, dann müssen wir das auch leisten.“ Er sage das vor dem Wahlgang, auch auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden.

Legt man Böhmes Wahlergebnis - er erhielt 438 von 480 Stimmen - zugrunde, wurde er nicht mißverstanden. Die Tatsache, daß er mit seinem politischen Profil noch immer die Mehrheitsstimmung eher kontrastiert als repräsentiert, gab nicht den Ausschlag. Mit über 90 Prozent erhielt er ein Ergebnis, das die Delegierten fast schon wieder an die Vergangenheit erinnern mußte.

Gute Ergebnisse auch für die Parteilinke

Ob die Besetzung der Stellvertreterposten eine stabile Führungscrew ergibt, bleibt offen. Erst die Intervention Böhmes für Markus Meckel als Stellvertreter gab den Ausschlag, daß dieser im zweiten Wahlgang durchkam. Aber, die Deklassierung des Mitkonkurrenten um den Parteivorsitz durch das eindeutige Votum für Böhme, wird der Kooperation nicht unbedingt förderlich sein. Für Angelika Barbe, die sich für Meckel als Parteivorsitzenden stark gemacht hatte, scheint der stellvertretende Vorsitz eher eine Nummer zu groß. Karl-August Kamilli, Chef des Bezirksverbandes Leipzig, gilt als Pragmatiker. Die Vorstandswahlen brachten nicht den erwarteten Rechtsruck. Exponierte Linke, wie Sabine Lieger oder Konrad Elmer, erhielten überraschend gute Ergebnisse. Keine Strömungswahl - keine Polarisierung.

Für das Einheits- und Harmoniebedürfnis der Versammlung markierte erwartungsgemäß die Wahl Willy Brandts zum Ehrenvorsitzenden den Gipfel der Gefühle. Immerhin entwickelte auch die Tagungsleitung eine Sensibilität für das überschwengliche Identifikationsbedürfnis gegenüber der Westprominenz: „Wir sollten hier nicht wie die Kühe herumstehen und warten, bis der Hirte uns abholt“, kommentierte einer aus dem Präsidium die zwanzigminütige Paralyse der Versammlung, die gebannt auf den Einzug Brandts wartete. Der suchte den Ton zwischen unvermeidlich pathetischen Hymnen auf den „Weg zur Einheit und Freiheit“, dessen Tor die Anwesenden aufgestoßen hätten, und der Forderung nach einem zügigen, aber nüchtern verantwortlichen Weg. Zwar war Brandt weit entfernt von Lafontaines Rede vom Vortag, die von der Einheitseuphorie der letzten Monate nur noch ein schier erdrückendes Maß an sozialen und internationalen Problemen übrig zu lassen schien; doch auch Brandt, der sich in den ersten Tagen nach der Öffnung und auf dem Berliner Parteitag geradezu als Symbolfigur der Einheit präsentiert hatte, erschien mal nüchterner, „nicht hektischer Anschluß, sondern vernünftiger Zusammenschluß“ so sein Motto.

Im Wahlprogramm ist vorgesehen, daß im April Verhandlungen über ein Vertragswerk zur deutschen Einheit aufgenommen und gemeinsame parlamentarische Kommissionen gebildet werden sollen. Unter dem Vorsitz Brandts soll dann der „Rat zur deutschen Einheit“ gebildet werden, der eine neue Verfassung ausarbeitet, über die in einer Volksabstimmung entschieden werden soll. Nach der Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments steht für die SPD die Auflösung von Bundestag und Volkskammer auf dem Programm. Die deutsche Einheit soll allerdings in einen europäischen Einigungsprozeß eingebunden werden.

Auch bei Brandt das Plädoyer für den Versöhnungsprozeß: „Ob eine Revolution groß genannt werden kann, hängt davon ab, ob sie sich Generosität leisten kann“, griff er den Gedanken Böhmes auf. Der lauschte, eher bedrattelt, verlegen stolz an einen Musterschüler erinnernd, dem neuen Ehrenvorsitzenden.

Von politischen Kontroversen war der Parteitag wahrlich nicht geprägt. Das in Kommission ausgearbeitete Grundsatzprogramm ging ohne gravierende Änderungen durch. Die „Aussprache“, immer wieder zerhackt durch die Vorstellungslust der Kandidaten, Vorstand, Parteirat, Schieß - und Kontrollkommission, fehlte jegliche Schärfe. Gestritten wurde erneut um Formulierungen, die unter dem Begriff Einstiegsquote auf 30 Prozent festgesetzt wurde. Das Recht auf „kostenlosen Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten“ blieb trotz Gegenanträgen im Programm. Das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper wurde - als Kompromiß - gestrichen.

An Schärfe fehlte es nicht nur den innerparteilichen, programmatischen Auseinandersetzungen. Auch vom Wahlkampf blieb die Veranstaltung merkwürdig unberührt. Nur der neue Geschäftsführer der Partei, Stefan Gilsberg, wählte in der Eröffnungsrede ein paar harte Worte. Edelbert Richter, einer aus dem ehemaligen linken Flügel des Demokratischen Aufbruchs und mittlerweile SPD-Mitglied, fand das doch eher erstaunlich: Die sind alle so gelassen hier. Ist die Wahl schon gelaufen?

Auch die Vorstellung der Wahlplattform durch Böhme blieb unaufgeregt und unverbindlich, etwa in der Art: „Einheit als Chance für Europa“, Leipzig als Standort der neuen Finanzbörse, „nicht mit gesellschaftlich vernünftigem, was ökologisch unvernünftig ist“.

Am Ende bedurfte es denn doch wieder eines Westprofis, um die Vorwahl-Lethargie der Nachwuchs-SPDler noch einmal zu brechen. Hans-Jochen Vogel peitschte den schon vorzeitig zufriedenen Genossen ein, die Wahl sei erst am Wahltag 18 Uhr gelaufen.