: Die Erpreßbarkeit der Linken im Kreuzberger Kiez
Die Alternative Liste Kreuzberg eroberte sich nach monatelanger Besetzung ihr Büro zurück / Im Kiez nimmt die Gewalt gegen Einzelpersonen und Institutionen zu ■ Aus Berlin Brigitte Fehrle
Nach monatelanger Besetzung nahm die Bezirksgruppe der Alternativen Liste in Berlin-Kreuzberg am Samstag nachmittag ihr Büro wieder in Besitz. Die von den ALern mit Spannung erwartete und lange diskutierte Aktion ging zu deren eigener Überraschung völlig unspektakulär über die Bühne. Mit einem Dutzend Leuten rückte der Trupp um 16 Uhr vor dem Laden in der Eisenbahnstraße im Stadtteil SO 36 an. Drinnen traf die Gruppe auf drei der Besetzer, die den Laden inzwischen als Wohnung nutzten. Ursprünglich waren die Räume als Basis für „revolutionäre Jugendarbeit“ in Anspruch genommen worden. Die befürchtete „Solidarität“ aus dem Kiez blieb aus. Die Besetzer verließen sang- und klanglos den Ort des Geschehens.
Diese unter sonnigem Himmel im nachmittäglich verschlafenen Kiez friedlich verlaufende Aktion hatte, bedenkt man die heftigen Debatten im Vorfeld, etwas Absurdes. Monatelang der Laden war seit dem 27. September 89 besetzt - ließ sich die Bezirksgruppe der Regierungspartei Alternative Liste von einer Gruppe Unbekannter mit verbal-revolutionärem Anspruch die materielle Grundlage ihrer politischen Arbeit im Kiez streitig machen. Sie bezahlte die Miete, das Telefon und nahm in Kauf, daß die Besetzer auf AL-Briefbögen dem Regierenden Bürgermeister Momper die rot-grüne Koalition aufkündigten. Und wären die Besetzer jetzt nicht freiwillig gegangen, die ALer wären wieder abgezogen. „Wir sind immer gegen das Faustrecht gewesen und haben das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkannt, dann können wir es jetzt nicht praktizieren“, hieß die Begründung dafür, daß man sich das Büro weder mit eigener noch mit Polizeigewalt wiederbeschaffen wollte.
Warum aber hat sich die Partei monatelang einschüchtern lassen von Leuten, die den Anspruch erheben, revolutionäre Politik zu machen? Es ist das immer noch funktionierende schlechte Gewissen der Linken, das die AL erpreßbar gemacht hat. Ein schlechtes Gewissen, das bis zur Selbstaufgabe der eigenen politischen Arbeit führt. Es wird nicht offensiv vertreten, daß man selbst inzwischen in die Parlamente eingezogen und zu einer Politik des pragmatischen Reformismus übergegangen ist. Die eigene Arbeit wird somit als etwas Minderwertiges definiert, man nimmt sich selbst nicht ernst. Der öffentliche Platz wird denjenigen überlassen, die mit radikalen Worthülsen auftreten.
Die Alternative Liste ist nicht die einzige Gruppe in Kreuzberg, bei der dieser Mechanismus funktioniert. Mit Besetzungen hat sich eine Gruppe im letzten Jahr bei Stadtplanern und Mieterberatern Zwischennutzungsverträge für zeitweise leerstehende, zur Sanierung bestimmte Häuser in Kreuzberg erstritten. Nun wollen die Leute selbstverständlich nicht mehr raus. Daß es für die Wohnungen bestehende Mietverträge gibt, die Mieter nur zeitweise umgesetzt wurden und darauf warten, daß sie in ihr Haus zurückkönnen, ist den neuen Nutzern gleichgültig. In ihren Augen sind die Mieter nur eine ideologische Erfindung der Stadtplaner, es gebe sie gar nicht, heißt es. Ausgestattet mit diesem Argument brach die Gruppe im letzten Herbst im Büro des Mieterladens ein mit der erklärten Absicht, sich durch „Akteneinsicht“ Klarheit verschaffen zu wollen. Diesen Konflikt hätten die Mieterberater vorhersehen können. Denn es ist illusorisch zu glauben, daß Leute, die zum Teil weder aus dem Kiez noch aus Berlin stammen und nichts hier wollen als den Freiraum nutzen, einmal „eroberte“ Häuser freiwillig wieder verlassen.
Daß diese Aktionen mit Politik nichts mehr zu tun haben, darüber ist man sich in Kreuzberg zwar verbal einig. Doch praktisch erfolgt nichts. Auch die Mieterberater und Stadtplaner erweisen sich als erpressbar, wenn ihre Zugeständnisse an „Revolutionäre Gruppen“ größer sind als die Verpflichtungen, die sie gegenüber Mietern haben, die im guten Glauben auf baldige Rückkehr in ein saniertes Haus ihre Wohnungen verlassen haben.
In diesem politischen Vakuum nimmt die Gewalt im Kiez gegen die „reformistische“ Linke weiter zu. Als im Mieterladen nach dem Aktenklauversuch überlegt wurde, ob man die Polizei einschalten solle, reagierten die „Betroffenen“ prompt. Eine Mitarbeiterin des Ladens fand auf ihr Auto den drohenden Spruch gesprüht: „Wir wissen, wo Du wohnst.“ Der Mieterladen verzichtete daraufhin auf eine Anzeige. Zum zweiten Mal in einem Jahr steckten Unbekannte den VW-Bus des Kreuzberger AL -Politikers Volker Härtig in Brand. Wie die Mitarbeiterin des Mieterladens wurde auch er persönlich bedroht. In einem Bekennerschreiben hieß es: „Solche Schweine... stellen eine Gefahr für das öffentliche Leben im Kiez dar und haben hier nichts mehr zu suchen... Wir haben Herrn Härtig lange genug geduldet. Jetzt ist Schluß!“
Die Kreuzberger Szene kapituliert vor den selbsternannten Revolutionären. Im Geschäftsführenden Ausschuß der Alternativen Liste wurde beschlossen, das am Samstag wiederbeschaffte Büro nicht mehr zu beziehen. In dieser Gegend, so hieß es, könne man keine vernünftige Arbeit mehr machen. Man müsse stets mit neuerlichen Aktionen rechnen.
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