Kunst der Konstruktion

■ Die Schuchow-Ausstellung im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen

Eine treibende Kraft im Leben des russischen Bauingenieurs Wladimir Schuchow (1853-1939) war die Freude am Erfinden und Konstruieren. Mit 23 Jahren beendete er das Moskauer Polytechnikum, begleitete seine Hochschullehrer auf einer ausgedehnten Amerikareise, besuchte die Weltausstellung in Philadelphia und die Maschinenfabriken von Pittsburgh, informierte sich über das amerikanische Eisenbahnwesen, kehrte nach Hause zurück und wurde Planer bei einer Eisenbahngesellschaft. Zwei Jahre später wechselte er zur russischen Ingenieursgesellschaft „Bari“ über, der er dann sein ganzes Leben lang verbunden blieb.

Für Bari baute Schuchow die erste Erdölleitung in Aserbeidschan und den ersten Erdöltank, erfand die Technik des Cracking - das Aufspalten von Erdöl zur Gewinnung der Benzine -, entwickelte Dampfkessel, baute die ersten russischen Tankschiffe, ein neues Wasserversorgungssystem für Moskau, über 400 Eisenbahnbrücken, kaum weniger Wassertürme, Strommasten, Fabrikhallen und gewölbte Glasdächer für Bahnhöfe oder Kaufhäuser.

Eine andere treibende Kraft für Schuchows unermüdliche Erfindertätigkeit war ein praktischer Notstand: Das Baumaterial war knapp. Vor allem Stahl wurde im Zarenreich und in der jungen Sowjetunion noch kaum selber produziert. Also galt es, materialsparend zu konstruieren. Metall ist auf Zug am meisten belastbar. Und solche weitgespannten Flächentragwerke - wie sie heute etwa am Münchner Olympiadach zu bewundern sind - sparen im Vergleich zur konventionellen Bauweise rund ein Drittel des Materials. So entwickelte Schuchow erstmals flächentragende Hängedächer. 1895 ließ er sich seine fragilen Netzkonstruktionen patentieren. Ein Jahr später wurden sie zur Überdachung der Ausstellungspavillons für die allrussische Kunst- und Industrieausstellung in Nischnij-Nowgorod zum ersten Mal gebaut. Es war die Zeit der großen Hungersnöte und der sozialen Unruhen im Land. Schuchow sorgte dafür, daß seine Bauarbeiter täglich ein warmes Essen erhielten. Und als die Pavillons standen, zeigte sich: Die Einfachheit der Form war nicht nur kostengünstig, sie war auch schön. Ihre sichtbar gemachten technischen Bauelemente - die Rippen, Ketten, Rauten, Stützpfeiler - gaben den Räumen Licht und grazile Leichtigkeit. Sie ließen kaum noch an Nutzbauten denken, sondern richteten das Augenmerk auf eine völlig neue Ästhetik der Technik. Leider sollte sie sich in der sowjetischen Architektur mit Ende der dreißiger Jahre nicht weiter fortsetzen. Der Stalinsche Brutalismus, die pompösen neoklassizistischen Monumente seiner Macht sollten von da an das Stadtbild beherrschen und erdrücken.

Kurz nach der Revolution konstruierte Schuchow aber ein Bauwerk, das noch heute in Moskau nicht zu übersehen ist. Die Radiostation „Schabolowka“ der Komintern in Moskau brauchte einen Sendeturm. Er sollte noch größer und schöner werden als der 300 Meter hohe Pariser Eiffelturm, den Gustave Eiffel 1889 zur Hundertjahrfeier der französischen Revolution gebaut hatte. Schuchow legte 1919 den Entwurf für einen 350 Meter hohen Turm vor, der aus mehreren übereinandergestellten kegelförmigen Gittertürmen bestand. Aber es fehlte an Stahl. So konnte Schuchow nur eine 150 Meter hohe Variante seines Turms bauen. Lenin ließ eigens dafür Stahl aus Armeebeständen bereitstellen. Schwerter zu Radiotürmen, sozusagen. Doch auch das reichte noch nicht. Mit deutschem Ruhrstahl, mit Stahl aus den Hütten Schlesiens und des Saarlandes wurde dieses Symbol eines Internationalen Arbeiter- und Bauernstaates fertiggestellt. Der schlanke filigrane Radioturm ist noch immer ein Wahrzeichen Moskaus.

Sein drei Meter hohes Modell beherrscht den Raum der Schuchow-Ausstellung im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen. Ein kleines deutsch-sowjetisches Forscherteam - Rainer Graefe vom Institut für leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart, Ottmar Pertschi, der Russisch-Übersetzer der Universitätsbibliothek, und Murat Gappojew von der Moskauer Hochschule für Bauwesen -, dieses Team hat in zehnjähriger Arbeit zusammen mit dem Moskauer Architekturmusuem und anderen Institutionen diese Ausstellung vorbereitet. Mit zahlreichen Originalexponaten und Fotodokumenten vermittelt sie die Breite und Vielfalt von Schuchows Werk. Sie macht den Aufbruchsgeist und die einmalige Ästhetik der russischen Baukunst zu Anfang dieses Jahrhunderts noch einmal neu erfahrbar. Schuchow, dieser „Held der Arbeit“, ist in der Sowjetunion zwar bekannt, nicht aber in Westeuropa. 1917 wurden die Firmen- und Geschäftsbeziehungen zum Ausland ja zunächst einmal abgebrochen. Doch es mag auch damit zusammenhängen, daß den Ingenieursbauten allgemein weniger Aufmerksamkeit zukommt als der repräsentativen Architektur.

Aber auch Schuchow selbst hat nichts zu seinem Bekanntwerden getan. Nie hat er sich über sein Werk oder sein Leben öffentlich geäußert. Er arbeitete. Und nur ein einziges Mal publizierte er einen Aufsatz, der mit seiner Ingenieurstätigkeit im engeren Sinne nichts zu tun hatte. Darin rechnete er mit der militärischen Führung Rußlands ab und appellierte an die Regierenden, „die moralischen Voraussetzungen für eine menschenwürdige Existenz der russischen Landeskinder“ zu schaffen. Eben das ist die Ethik der Baumeisterkunst, die sein Lebenswerk bestimmte.

Marie-Luise Bott

Die Ausstellung wird noch bis zum 25. März in Stuttgart gezeigt. Dann ist sie in Frankfurt, Dortmund und Rotterdam zu sehen. Anschließend geht sie nach Moskau, wo sie den Grundstein zu einem dort geplanten Schuchow-Museum legen wird.