Fredi Frunz, Fischer ohne Fische

■ Zur Uraufführung von Thomas Hürlimanns Komödie „Der letzte Gast“ in Zürich

Elke Schmitter

Im Frühtau zum Fange wir gehn fallera„

Es blauen die Flüsse, die Seen fallera

Wir fischen ohne Sorgen

Im kühlen klaren Morgen

Wie ist das Leben so schön schön schön

Beginn mit einem Männerchor, weihevoll intoniert hinter dem roten Vorhang, zart und wohltönend angestimmt. Als das Tuch sich hebt, ist ein See zu sehen, der noch blaut, aber, wie bald zu erfahren ist, nicht mehr lebt: gekippt. Vor dem Postkartenmotiv eine Veranda, Korbstühle auf Holz für einen langen Nachmittag am Ufer, und mittendrin einer, für den auch der längste Nachmittag nichts mehr verspricht; Onkel Anselm, dem ein Speichelfaden aus dem Munde glitzert. Er ist nicht tot, aber es fehlt nicht viel, nur noch ein bißchen versessenes Leben. Der See hinter ihm hat es hinter sich. Die stinkende, sauerstofflose Kloake ist voller verwester Fische. Das Wasser, aus dem einmal alles Leben strömte, taugt nur noch als Kulisse einer permanenten Inszenierung mit dem Thema: jetzt und immerdar, wie es immer war.

Monika blickt zum See hinaus.

Sie sind zu viert. Streng dich an, du Leiche.

Das erste Wort, das der Alte schließlich spricht: „Rilke“. Zuvor brabbelt er nur, und man könnte meinen: Er kann nicht anders. Kein Reden, auch keine Weiber mehr: „Tempi passati“, wie seine Schwägerin Adrienne unbarmherzig feststellt. Für ein Mätzchen und die kleinen Strategien des Unfriedens ist er allerdings noch gut, der Opa im Körbchen. Und betreibt mit böser Heiterkeit sein Spiel, mit einer Glocke Brei und Gesellschaft zu ordern.

Groß ist sie nicht, seine Gesellschaft: Schwägerin Adrienne, Nichte Monika und zugehöriger Mann, vorne Fredi, hinten Frunz mit Namen. Ehemals große Schirmdynastie, nun heruntergekommen auf einen Laden und das Haus am toten See. Ganz und gar damit beschäftigt, die alten Zeiten zu betrauern und im übrigen zu leben, wie es sich gehört: als wäre nichts geschehen.

Dr. Pütz: Sonderbar. Man gewöhnt sich an alles, aber an die Stille gewöhnt man sich nie.

Adrienne: Ach Gott, Herr Doktor. In zwanzig, dreißig Jahren weiß sowieso keiner mehr, was das war: Grillengezirp. Oder vermißt einer von euch die Trompetenstöße der urweltlichen Mammutherden?

Besuch ist gekommen, der nicht hätte kommen sollen. Denn die Herren sind besoffen, und das sehen die Damen nicht gern. Dabei haben die Herren Frunz, Pütz und Knill Grund genug, besoffen zu sein: sie kommen von einer Beerdigung, haben ihren Obmann begraben, der schon mit 63 verschied, wärend Anselm, der schon lange gaga ist, noch immer sein Unwesen treibt. Ihr Verein, zu dem der Obmann jetzt fehlt, hat sich einer Tätigkeit gewidmet, die von der Zeit erledigt worden ist: dem Fischen. Geblieben ist der Fisch im deutschen Liedgut (zu welchem Dr. Pütz eine Anthologie zusammenstellt), geblieben sind der Chor, die Männerfreundschaft, die Lebenskunst des Anglers: Zigi! Zagi! hoi! hoi! hoi! Die Herren bewahren Fische im Keller auf, um sie sich hin und wieder anzusehen, und setzen ansonsten ihr Vereinsleben fort: der See ist gekippt, und jetzt kippen sie einen, und zwar einen nach dem anderen.

Knill: Ich bin spitz.

Dr. Pütz: Hast es gehört, Frunz? Knill ist spitz.

Knill: Infolge Traurigkeit. Weiber hier?

Wo Männer und Frauen sich mischen, ergibt sich außer einem neuen Bild nicht viel Bewegung. Zu sehr sind alle mit sich selbst beschäftigt, als daß die Liebe sie zueinander führen könnte. Die Damen zelebrieren eine Wohlanständigkeit, die von der eigenen redseligen Psychologisierung unterlaufen wird, während die Männer ihre Freizeit den pubertären Jugendträumen widmen. Die Zukunft hat längst aufgehört, dabei zu sein: Knill trauert um seine seit 21 Jahren tote Frau, Frunz konserviert tote Fische, die alten Frauen beschäftigen sich mit ihrer Jugend, die jungen Frauen mit ihren Neurosen, die fest in der Kindheit wurzeln.

Soweit der erste Akt. Die Veranda, das Personal, die Sätze: alles paßt wunderbar gespenstisch ineinander, und unter der Konversation rieselt es melancholisch: Man lebt das Leben ab. Tschechows „Drei Schwestern“ fängt so an, jedoch, bevor Adrienne ihren Weißt-Du-noch-Monolog beginnen kann, muß sie erst Anselm zum Leben zurückholen: Kein entschiedener Beginn, wie es kein entschiedenes Ende geben wird. Statt dessen Sitzen und Warten, Reden und Pausieren. So könnte es endlos weitergehen, wenn nicht der Autor eine weitere Geschichte erzählen würde, die er mit der ersten verklammern will: Die Geschichte Oskar Werners, des großen Mimen, gesichtet im Grenzbahnhofbüffet Buchs mit einer Flasche Fernet.

Oskar Werner war das Schauspieleridol der Nachkriegszeit, der berühmteste Hamlet, Don Carlos, St. Just, der Jules in Truffauts Verfilmung des Romans von Franz Hessel. Zuletzt, befangen in Größenwahn und Alkohol, tingelte er mit einem Rilke-Programm die Zonengrenze entlang. Im Stück steht er plötzlich auf der Bühne, im Bahnhofsbuffet, irrtümlich eingeschlossen mit dem letzten Gast, dem Fischer ohne Fische Fredi Frunz. Der Mime, der den Tod sucht, der Vereinsmann, der einen neuen Obmann braucht: sie finden sich. Oskar Werner wird mithilfe der Saaltochter Milly zum See gebracht und dort mithilfe von Alkohol aus dem Dämmer geholt. Es entsteht Verwirrung, nicht zuletzt soziale: Monika Frunz, die Depressive, wittert Konkurrenz in der Kellnerin, und die beiden treten in den Wettlauf um die größere Macke, weil die höhere Tochter dem Gelichter die Krone der Krankheit mißgönnt. Die Damen des Hauses legen sich dem Idol ihrer Jugend zu Füßen, dieses nimmt das Zepter des Fischervereins (den Schirm) und spielt vorübergehend auch diese Rolle. Dann versucht Oskar Werner, den Tod im See zu finden, und nimmt davon Abstand, weil es so stinkt: Die Komödie nimmt ihren Lauf.

Die Dialoge sind grandios. Zwischen burlesken Szenen voller Albernheit, zwischen konventioneller Konversation taucht zitiert - in den Monologen Oskar Werners (gespielt von Gisela Uhlen) eine andere Sprache auf, die von fern daran erinnert, was Dichtung einmal bedeutet hat: Das Bestehen darauf, daß Menschen sinnliche Wesen sind, fähig zu Leiden und Selbstreflexion. Die Rollenträger der Komödie haben diese Eigenschaften abgelegt, suchen Leben in der permanenten, sinnlosen Wiederholung des Gestern oder in der sinnlosen Applikation psychologischer Fachtermini auf jene Schatten, die ihr Innenleben noch wirft. Sie sind am Ende angekommen, aber sie bewegen sich noch. Sie sind, wie die Natur vor ihnen, nur noch sichtbar, aber nicht mehr lebendig.

In der Verknüpfung der Fossile am See, die sich den veränderten Verhältnissen nicht anpassen können, mit dem Fossil des Bühnenlebens, das in allen Verwandlungen sich selbst verloren hat, liegen Reiz und Gefahr des Schauspiels; in Zürich überwog das letztere. In eine abgründig schimmernde, aber realistisch inszenierte Situation wird ein surreales Element eingezogen; Oskar Werner kann zaubern, erscheint wie von Geisterhand gezogen im Spiel, das die unmögliche Situation psychologisch genau wieder aufnimmt. Das Zürcher Ensemble kann das Stück nicht vollkommen plausibel machen, weil es sich zunächst völlig auf die Tschechowsche Ebene einläßt und im zweiten Teil die kalauernden, derb witzigen Situationen überbetont: Das Schwebende und Luzide des Textes bleibt ungespielt. So führen das illusionistische Bühnenbild (Beatrix von Pilgrim) und die eher handwerklich orientierte, detailgenaue Regie (Achim Benning), die auf brechende Effekte verzichtet, ungewollt zu einer Verbiederung: Ach so, lehnt sich das Publikum im zweiten Akt zurück, es ist ja alles gar nicht wahr... Damit ist nicht nur der See, sondern auch das Stück gekippt. Die Frage bleibt offen, ob das doppelbödige Grauen dieser Komödie durch die surrealen Einschübe zwangsläufig verharmlost wird.