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Einheit? Vielheit?

Der polnische Schriftsteller Jacek Bochenski und die deutsche Vereinigung  ■ D O K U M E N T A T I O N

Eine Vorbemerkung: Wir Schriftsteller haben Einheit nicht gern. Wir ziehen Vielheit vor. Das ist klar.

Wir - Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, und was wir auch immer sein mögen - verknüpfen Einheit mit Beschränktheit, dagegen Vielheit mit Freiheit. Einheit ist uns anstößig. Vielheit ist uns lieb. Einheit ist Gleichschaltung. Vielheit ist Unterschiedlichkeit. Einheit muß dumm, Vielheit kann geistvoll sein.

Noch schlimmer: Einheit bedeutet Zwang. Einheit ist eine zusammengepreßte und erstickte Vielheit. Einheit ist ein Getrampel vieler Füße. Ein Geschrei vieler Kehlen. Vielleicht ein Haufen vieler Leichen. Einheit ist der Tod. Wir haben Angst vor der Einheit. Hier ist meine Vorbemerkung zu Ende.

Ich nehme an, von mir wird eigentlich die Antwort auf eine bestimmte Frage erwartet, nämlich auf die folgende: Habe ich Angst vor der Einheit Deutschlands?

Antworte ich „ja“, wundert sich wahrscheinlich keiner. Denn es ist selbstverständlich, daß einem alten, grauhaarigen Polen peinliche Lehren der Geschichte in Erinnerung geblieben sein müssen und er an der Einheit Deutschlands keine Lust findet.

Antworte ich „nein“, ist die Verwunderung wohl eher gemäßigt. Man kennt ja die offizielle polnische Einstellung dazu. Es kommt auf ein paar Gewährleistungen an. Nichts Besonderes also. Sind etwa Franzosen nicht ähnlicher Meinung?

Na ja, aber... Ich bin kein Franzose. Ich komme aus dem Osten. Interessant wäre also die Begründung, warum ich keine Angst vor der Einheit Deutschlands habe - vorausgesetzt, ich habe wirklich keine.

Einer Umfrage zufolge sind im Moment 44 Prozent der Polen gegen die Vereinigung, 41 Prozent würden sie gutheißen, die „übrigen“ 15 Prozent können sich nicht entschließen. Die Umfrage führten 'The Economist‘ und 'The Los Angeles Times‘ durch.

Nun ein Zitat aus dem Jahre 1978: „Die ganze Grenze lang werden Deutsche von Deutschen ständig ums Leben gebracht. Das ist unerhört. Das darf nicht so weitergehen.“ Ich zitiere weiter aus demselben Papier: „Die Vereinigung Deutschlands, falls sie zur Tatsache wird, soll kein Anlaß zu neuen Störungen in den polnisch-deutschen Beziehungen sein, sondern im Gegenteil: Sie soll zur allgemeinen Integration in diesem Teil des Kontinents beitragen.“

Wer hat diese Worte von 1978 geschrieben? Ein polnischer Schriftsteller, der inzwischen verstorbene Andrzej Kijowski, mein Freund, der sich an einer Dissidenteninitiative jener Jahre beteiligte. Die Initiative hieß polnische Verständigung für Unabhängigkeit. Von Solidarnosc war damals noch keine Rede.

Kijowski begründete seinen Standpunkt hauptsächlich mit zwei Argumenten: Erstens: Die Menschenrechte, einschließlich des Selbstbestimmungsrechtes, müssen überall respektiert werden. Zweitens: Der Abbau des kommunistischen Regimes in der DDR und der Abzug sowjetischer Truppen aus Ostdeutschland liegt im Interesse Polens; die Befreiung Polens von der sowjetischen Herrschaft ist undenkbar, solange die Sowjetunion ihre Statthalter und ihre Armeen im westlichen Nachbarland DDR unterhält.

Die Überzeugungskraft des zweiten Arguments scheint zwar angesichts der jüngsten Entwicklung in Mittel- und Osteuropa ein wenig geschwächt zu sein. Trotzdem bin ich mit Kijowski heute wie vor zwölf Jahren im Prinzip einverstanden. Seinen Überlegungen möchte ich aber einiges hinzufügen.

Ich bin für die Vereinigung aus oben erwähnten humanitären und politischen Erwägungen. Und überdies aus einem ganz besonderen Grund: aus Angst. Aus Angst vor dem neuartigen, postkommunistischen deutschen Nationalismus. In diesem Zusammenhang muß ich vor allem an die DDR denken.

Die Hoffnung der Jahrzehnte, daß der nationalistische Fremdenhaß im Kommunismus verschwindet, die Leute sich eine friedliebende Mentalität aneignen, Finsterlinge aufgeklärt, Chauvinisten umerzogen werden usw., hat sich nicht erfüllt. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Dafür gibt es traurige Beweise in jedem beliebigen kommunistischen Land, sei es in Jugoslawien, Aserbaidschan, nicht zuletzt in der DDR, aber auch in Polen, wo wir bedauernswerte Zeichen der Intoleranz den Volksdeutschen oder Ukrainern gegenüber hie und da zu verzeichnen haben.

„Umerziehung“ ist unter totalitärem Druck weder echt noch wirklich möglich, da sie - als seelischer Gewaltakt überwiegend abgelehnt, obwohl scheinbar von allen hingenommen wird. So wurden, fürchte ich, die gedämpften Haßgefühle und Ressentiments nach 1945 bei den Ostdeutschen im Gegensatz zu den Westdeutschen gleichsam eingefroren, konserviert und aufbewahrt. Eine gefährliche Konservenpackung! Ich kann mir ihren Inhalt vorstellen. Ich habe Angst davor. Sie soll nicht länger aufbewahrt werden. Ich will sie loswerden. So schnell wie möglich. Auch deshalb bin ich für die Vereinigung, meine Damen und Herren.

Der Autor lebt in Warschau und war während des Kriegsrechts interniert. 1987 erhielt er den Solidarnosc-Literaturpreis. Er hat diesen Text in deutscher Sprache geschrieben und beim Schriftstellertreffen „Deutsche Fragen“ (siehe Seite 17) am vergangenen Wochenende in West-Berlin vorgetragen.

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