„Unsicherheit ist das angemessenste Gefühl“

■ Der Demokratisierungsprozeß in der DDR als psychisches Problem / „Nicht schon wieder in pathologische Bewältigungsmuster einmünden“ / „Eiskalte soziale Angst“ wahrnehmbar / Gespräch mit zwei Psychologen aus der DDR

Der jährliche Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie tagte am Wochenende in Berlin über ein aktuelles Thema: „Gesundmachende und krankmachende Wirkungen des Demokratisierungsprozesses in der DDR“. Das Thema wurde auf Initiative von Michael Froese, Psychologe am Ostberliner „Haus der Gesundheit“, in das Kongreßprogramm aufgenommen. Die taz sprach mit Heike Berger, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie an der Fachklinik Herzberge (DDR), sowie Beate Mitzscherlich, Mitarbeiterin der Forschungsstelle für experimentelle Persönlichkeitspsychologie und Verhaltensmodifikation an der Universität Leipzig.

taz: Was macht denn krank am gegenwärtigen Prozeß in der DDR?

Berger: Wenn man unter Gesundheit die Definition der WHO versteht - also einen Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens -, dann ist das selbst in „normalen“ Zeiten kaum denkbar, daß man gesunde Leute trifft - und schon gar nicht in einer so turbulenten Phase, wie sie jetzt in der DDR herrscht. Unsere Situation beinhaltet alle Momente einer Krise. Das ist ein schwerwiegender Verlust aller Werte, der da stattgefunden hat. Daß die Leute darauf labil und sehr beunruhigt reagieren, ist sehr menschlich und sehr normal. So etwas darf auf keinen Fall pathologisiert werden. Man müßte wohl eher von einer Störung sprechen, wenn jemand in diesen Zeiten nicht beunruhigt wäre. Unsicherheit ist gegenwärtig für mich das angemessenste Gefühl - das kann bis zur Symptombildung gehen, aber auch das würde ich mit sehr viel Verstehen begleiten.

Mitzscherlich: Das Besondere an meiner Arbeit ist ja, daß wir immer mit vermeintlich Gesunden gearbeitet haben. Da sind wir schnell darauf aufmerksam geworden, daß Gesundheit ein relativer Begriff ist. Wir haben die ganz „normalen“ Verbiegungen gesehen, die unser System so verursacht hat. Das gilt für Pädagogen aber auch für Betriebsleiter, Funktionäre und Studenten, die ganz viele Sachen ausblenden mußten, um arbeitsfähig zu bleiben.

Berger: Alles schreiben und sagen dürfen, befreit von den Bandagen - diese Erfahrung hatte anfangs schon eine ungemein euphorisierende Wirkung. Das hält bei mir persönlich auch noch an. Ich habe das als ungemein belebend empfunden. Ich würde mir einfach wünschen, daß wir uns zu unserer gesellschaftlichen „Gesundung“ Zeit lassen und nicht schon wieder in pathologische Bewältigungsmuster einmünden.

Was heißt in diesem Zusammenhang „pathologische Bewältigungsmuster“?

Berger: Einfach zuzumachen. Sehr schnell fertige Lösungen, also westliche Muster zu übernehmen. Gar nicht mehr zu sehen, was eigentlich selbst in uns steckt. Andererseits wurde es uns in den vierzig Jahren ja ungemein schwergemacht, eine eigene Identität zu entwickeln. Wir sind eine Gesellschaft, der eigentlich immer nur das Fernweh, nie das Heimweh blieb. Erst jetzt, in dieser Situation des Umbruchs, wird klar, daß sich auch eine gewisse Gebundenheit entwickelt hat. Auf einer der letzten Dresdener Kunstausstellungen gab es ein Exponat, das den Zustand unserer Gesellschaft in meinen Augen sehr treffend dargestellt hat - das waren einfach mehrere Milchflaschen, eingeschweißt in Klarsichtfolie. Das entspricht ganz gut einerseits den engen sozialen Beziehungen bei uns, andererseits der mangelnden Bewegungsfreiheit.

Wie macht sich die Umbruch- und Auflösungsstimmung in ihrer psychosozialen Beratung bemerkbar?

Mitzscherlich: Das ist unterschiedlich. Um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen, wie das Konrad Weiß vor kurzem getan hat, muß einer schon sehr mutig sein. Was ich am stärksten in meiner Arbeit wahrnehme, ist eine eiskalte soziale Angst. Gerade bei Frauen mit Kindern. Man fürchtet um den Arbeitsplatz, um die Versorgung. Und da gibt es dann zwei Arten, damit umzugehen: Die einen werden durch die Angst gelähmt, die anderen fangen an zu kurbeln - die machen sich fit fürs Konkurrenzgeschäft. Natürlich stimmt es, daß die engen sozialen Beziehungen in der DDR auch immer eine Art Notgemeinschaft waren. Uns blieb gar nichts anderes übrig. Aber ich befürchte, daß uns das durch Konkurrenz kaputtgemacht wird - es sei denn, wir finden eine Form, uns das zu erhalten. Dann sind wir allerdings weitaus weniger gefährdet als ihr.

Berger: Diese ganz existentiellen Ängste äußert bei mir in der psychiatrischen Sprechstunde nicht jeder zweite, sondern fast jeder Patient. Da hört man jetzt oft die Aussage: „Also, so habe ich mir das nicht vorgestellt, so wollte ich es nicht haben.“ Da haben viele das Gefühl, daß ihnen da etwas aus der Hand genommen worden ist. Auch vom eigenen Volk. Das klang ja schon mehrmals an, daß andere Gruppen diese sanfte Revolution begonnen haben als die, die sich ihrer jetzt bedienen. Und nun kommt bei manchen so eine Nostalgie auf: „Unsere liebe alte DDR...“

Mitzscherlich: So schön sicher, mit Mauer drum rum, so „befürsorgend“...

Berger: Die sozial Schwachen sind ja auch bedroht. Es mußte nie ein Patient fürchten, daß er seinen Arbeitsplatz verliert, weil er krank ist. Natürlich waren sie andererseits sozial ausgegrenzt. Aber da konnten wir dann auch einschreiten.

Sie haben auch zunehmend Leute in der Beratung, die das SED -System nicht nur gestützt, sondern daran auch ihr Leben und Wertgefüge orientiert haben. In einer unglaublich schnellen Zeit ist all das, woran sie geglaubt haben und was ihnen Macht verliehen hat, weggewischt worden. Wie reagieren diese Leute?

Berger: Das ist katastrophal. Denen ist die Krücke weggerissen worden - und jetzt merken sie, daß sie gar keine Beine haben. Es geht nicht nur um den Wegfall der materiellen Existenz, sondern auch um den Haß der Bevölkerung ihnen gegenüber. Ihnen wird buchstäblich ins Gesicht gespuckt. Und diese Menschen haben ja von der Macht gelebt, haben dem also nichts entgegenzusetzen, keinen Stolz, gar nichts. Ich empfinde das irgendwo schon als tragisch. Diese Umwandlung vom Täter zum Opfer übersteht natürlich keiner ohne Beeinträchtigungen. Da kommt es zu Katastrophenreaktionen, die oft in Suizide einmünden.

Also müßte auch eine Aufarbeitung der Folgen von vierzig Jahren DDR geleistet werden. Steht das Thema für die Therapeuten an?

Mitzscherlich: Natürlich steht das an. Daß wir jetzt soviel Angst haben vor der unbestimmten Situation, daß wir uns von euren Herrschaften so einschüchtern lassen, das sind Verhaltensweisen, die wir vierzig Jahre lang gelernt haben.

Interview: Andrea Böhm