FDP will Klarheit in der Grenzfrage

■ Garantie für polnische Westgrenze noch vor Einigung gefordert / Genscher: Das Gebiet, das vereinigt werden soll, muß definiert werden / Grenzfrage (noch) keine Koalitionsfrage / Mazowiecki Vorschlag wird geprüft

Berlin (afp/dpa/taz) - Bundesaußenminister Genscher hat gestern in Bonn erklärt, beim deutschen Einigungsprozeß müsse mit „Taktgefühl und Behutsamkeit“ vorgegangen werden und ist damit in eine gewisse Distanz zu Bundeskanzler Kohl gegangen. Genscher drängt jedenfalls auf eine „deutliche politische Willenserklärung“ zur polnischen Westgrenze. Die Erklärung müsse Teil des Vereinigungsprozesses der beiden deutschen Staaten sein, da „wir das Gebiet, das vereinigt werden soll, definieren müssen“, sagte Genscher am Dienstag in Bonn. Damit werde dann die Grenze eines künftigen Deutschlands festgeschrieben. Die Frage der polnischen Westgrenze habe europäische und nationale Dimension. Der polnische Ministerpräsident Mazowiecki hat inzwischen einen Vorschlag unterbreitet, in einem Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und Polen die Westgrenze zu garantieren und dieses Abkommen später von einem gesamtdeutschen Souverän unterzeichnen zu lassen. Genscher sah darin einen „sehr interessanten Ansatzpunkt und einen gangbaren Weg“ und wertete dies als den Versuch Warschaus, „die polnischen Interessen und die deutschen Möglichkeiten zu vereinen“. Der Außenminister will den Vorschlag Warschaus in den kommenden Tagen mit Bundeskanzler Kohl besprechen. Zum künftigen bündnispolitischen Status betonte Genscher erneut, auch ein vereinigtes Deutschland solle Nato-Mitglied bleiben. Das westliche Verteidigungsbündnis dürfe sich aber nicht nach Osten ausdehnen. Über die Zukunft der Nationalen Volksarmee müsse die DDR-Regierung nach der Wahl selbst entscheiden. Abrüstungserfolge in Wien mit „drastischen Truppenreduzierungen“ auch bei der Bundeswehr seien jetzt vor diesem Hintergrund um so wichtiger, weil sich danach die Fragen künftiger Sicherheitsstrukturen leichter lösen ließen. Die geplanten „Zwei plus Vier-Treffen“ könnten, so Genscher, parallel, „wenn auch zeitversetzt“ stattfinden. Einzeltreffen der Deutschen mit den drei Westmächten und der Sowjetunion seien vorstellbar. Mit einem erfolgreichen Abschluß würden die Rechte der vier Mächte für Gesamtdeutschland gegenstandslos. Die noch für dieses Jahr geplante KSZE-Gipfelkonferenz soll nach Genschers Worten das Ergebnis der Sechser-Verhandlungen lediglich billigend „zur Kenntnis nehmen“, also kein Einspruchsrecht haben.

FDP-Chef Lambsdorff, der sich zur Zeit in den USA aufhält, hatte sich in den letzten Tagen mehrfach dahingehend geäußert, daß Bundeskanzler Kohl es bedauerlicherweise noch immer an der nötigen Klarheit in dieser Frage fehlen lasse. Lambsdorff unterstützte inzwischen den Vorschlag von Bundestagspräsidentin Süssmuth (CDU), Bundestag und DDR -Volkskammer sollten nach den Wahlen am 18. März, aber noch vor der Vereinigung Deutschlands eine Bestandsgarantie für die polnische Westgrenze abgeben. Der Druck auf Kohl in dieser Sache wächst, aber weder Genscher noch Lambsdorff wollten am Dienstag das Grenzproblem zur Koalitionsfrage erklären.

jon