Die Tragik einer Avantgarde

Eine Revolutionspartei, die langsam - offenbar zu langsam dabei war, sich von ihrem überholten Avantgardeanspruch zu trennen, ist von ihrer Vergangenheit eingeholt worden - der einer Guerillabewegung, die sich in einem glücklichen Moment der Geschichte an die Spitze einer aufständischen Bevölkerung setzte und mit ihr gemeinsam eine Familiendiktatur hinwegfegte. Und die erst im letzten Jahr begonnen hatte, über eine Demokratisierung ihrer eigenen Struktur nachzudenken.

Bis heute werden alle Entscheidungen in der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN von denselben neun Comandantes de la Revolucion in Klausur getroffen, die im April 1979 die große Guerillaoffensive gegen Somoza beschlossen hatten. Der Rest der Partei empfängt die „Linie“ aus der wöchentlichen Sitzung des hermetisch abgeschlossenen Zirkels.

Der Erfolg bestätigte zunächst das Konzept der Comandantes: Die sogenannten „Massen“ machten mit, akzeptierten, daß sie den Diktator ohne die Waffen der Guerilla wohl kaum aus dem Land geworfen hätten und ließen sich mehr oder weniger willig in sandinistische Massenorganisationen eingliedern. Aus Südamerika angereiste Trotzkisten und die undogmatische Linke Europas waren zwar enttäuscht, daß die neun Comandantes von autonomen Basisorganisationen nichts wissen wollten. Aber auch sie nahmen hin, daß ihre sandinistischen Partner wenig Vertrauen in eine Bevölkerung hatten, die nicht - wie etwa in El Salvador - auf eine lange Tradition im Widerstand zurückblicken konnte, die sich vielmehr „nur“ spontan und in einigen Städten gegen die Diktatur erhoben hatte.

Ein halbes Jahrzehnt lang blieb das paternalistische Verhältnis zwischen Avantgarde und Massen unverändert - ob Alphabetisierungskampagne oder Gesundheitswesen, alles wurde von oben organisiert. Dieser verticalismo, wie er nicht nur in Nicaragua genannt wird, schlug spätestens auf dem Höhepunkt des Contrakrieges (1984/85) gegen seine Protagonisten zurück - sobald es nämlich nicht mehr sozialen Fortschritt, sondern nur noch Pflichten und Opfer zu verteilen gab. Das dämmerte mit der Zeit auch den Sandinisten, und so starteten sie immer wieder Versuche, ihre demotivierten Basisorganisationen in den Stadtteilen neu zu beleben.

Doch mit wenig Erfolg. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA ihr Ziel schon zu einem Gutteil erreicht - wenn auch nicht militärisch. Wirtschaftsboykott, Contrakrieg und die diplomatische Isolierung, in die sie Nicaragua immer wieder trieben, bewirkten, daß die Sandinisten sich nur noch mit Drahtseilakten diplomatischen Lavierens (zwischen Westeuropa, USA und Ostblock), mit propagandistischen Wechselbädern für das eigene Volk (mal war Härte, dann wieder Versöhnung angesagt) und Durchhalteappellen gegen die US-Aggression stabilisieren konnten.

Solche raschen taktischen Manöver aber verlangten erneute Zentralisierung, und während die Rechtsopposition immer mehr Spielraum erhielt, wurden die eigenen „Massenorganisationen“ weiter gegängelt. Statt die Interessen von Frauen, Jugendlichen oder Bauern zu vertreten, mußten sie für Wehrpflicht und Lohnverzicht werben, verschlissen sich dabei als „klassischer Transmissionsriemen“. Was von Beobachtern immer wieder als taktische Meisterleistung der FSLN-Führung bewundert wurde, ermöglichte es in der Tat, den Krieg gegen die Contra militärisch zu gewinnen, unterminierte aber zugleich jede dauerhafte politische Arbeit.

Dann kam, Anfang 1988, der Waffenstillstand. Obwohl die Contra weiter Kooperativen und Dörfer überfiel, begann für die Bevölkerung eine Art Nachkriegsperiode: Lang zurückgestaute materielle Bedürfnisse meldeten sich mit Macht. Jetzt rächte sich die einst von den Sandinisten geförderte Mentalität, alles vom Staat und der weisen Avantgarde zu erwarten. Denn der blieb angesichts der Wirtschaftskatastrophe nichts anders übrig, als die hochsubventionierten Preise freizugeben und die Wirtschaft immer weiter zu liberalisieren. Die Folge: Die Reallöhne sanken weiter, die Arbeitslosigkeit stieg, gerade für die traditionelle Basis der Sandinisten: die Jugendlichen, das Subproletariat, die Landarbeiter.

Jetzt begann eine Reihe sandinistischer Politiker zwar, der Bevölkerung ihre „Eigenverantwortung“ zu predigen, aber für eine Umkehr war es zu spät. Der Wahlkampf setzte schon wieder andere Prioritäten: Widersprüche wurden mit populistischen und machistischen Sprüchen (Daniel Ortega als der siegreiche Hahn im Hahnenkampf) zugekleistert, alles drehte sich im US-amerikanischen Stil um den joggenden und baseballspielenden Präsidenten.

Doch Entpolitisierung und Denunzierung der mit der Contra verfilzten bürgerlichen Opposition reichten nicht mehr, um das Loch zwischen dem nicht mehr funktionierenden Avantgardekonzept und der nie realisierten Organisation von unten zu füllen. Die Wähler und Wählerinnen entschieden sich für das unbekanntere Übel.

Michael Rediske