Gründergeist am Prenzlauer Berg

■ In Ost-Berlin schießen Neuunternehmungen wie Pilze aus dem Boden / Die zumeist jungen Gewerbetreibenden wollen sich „nichts mehr vorschreiben lassen“ / Ärger über „volkswirtschaftlichen Kram“ / Einige fürchten die Konkurrenz der Westbetriebe, andere wollen kooperieren / „Der Zug nach Europa startet in Ost-Berlin“

Das Geschäft wirkt wie ein Kolonialwarenladen aus vergangenen Zeiten: Auf dem Marmortresen stehen an Bonbonnieren erinnernde Plastikgefäße, aus denen sich Kinder bunte Bonbons oder andere Süßigkeiten aussuchen können, auf den mahagonifarbenen Holzregalen lagern Makkaroni neben Sekt, Schokolade und Kondensmilch.

Seit September bieten Sylvia Komin und ihre beiden Mitarbeiterinnen Rita und Annette Jung in ihrem „Tante-Emma -Laden“ in der Kochhannstraße 39 in Friedrichshain, was das Herz vieler Ostberliner begehrt. „Um meine eigene Chefin sein zu können und mir selbst zu beweisen, daß ich das packe“, hat sich die 42jährige selbständig gemacht, nachdem sie sich zuvor in der Handwerkskammer als Abteilungsleiterin für Rationalisierung lange mit mißlichem „volkswirtschaftlichen Kram“ herumgeärgert hatte. Rationalisierung bedeutet dort, durch Improvisieren Lücken zu füllen, z.B. dafür zu sorgen, daß Schlosser aus Metallabfällen fehlende Tortenstückteller herstellen. Ihren ersten Antrag auf eine Gewerbegenehmigung hatte sie 1988 gestellt, im Juni vergangenen Jahres kam endlich die Genehmigung.

Die Einrichtung des 30 Quadratmeter kleinen Ladens stammt noch aus der Vorkriegszeit, die Waren kommen von der HO (Handels-Organisation), von der Sylvia Komin auf die Handelsspanne eine Provision bekommt. Die Preise kann sie noch nicht selbst festlegen, „bis zum 18.März“, meint die Außenhandelskauffrau mit einem Augenzwinkern. Mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft hofft sie auf mehr Verdienst, ist allerdings auch skeptisch: Von einem westlichen Handelspartner, der einen Warenverkauf zum Kurs von 3:1 bisher nicht akzeptieren wollte, sei ihr schon nahegelegt worden, „ob ich mich nicht umorientieren wolle“. Angesichts der drohenden Konkurrenz westlicher Großunternehmen meint sie etwas wehmütig: „Ich schätze, daß ich vielleicht noch zwei Jahre hier bin.“

Gleich um die Ecke in der Pintschstraße 12 ist Ilona Kratofiel seit 1.Dezember stolze Inhaberin eines Seifen- und Haushaltswarengeschäftes. Nach einem ersten Gewerbeantrag 1986 konnte sie vergangenes Jahr den Laden übernehmen. Sie war vorher Leiterin einer „Verkaufsstelle“ für Schreibwaren und wollte selbständig werden, „weil ich die ganzen Jahre Vorgesetzte gehabt habe und mir nicht mehr alle Sachen vorschreiben lassen möchte“.

Kondome und Kosmetik

Ihr HO-Warenangebot reicht vom Kondom über hölzerne Quirls bis zu Kochtöpfen und Kosmetik made in GDR. Einen West -Handelspartner hat sie noch nicht, will aber in diesen Tagen an einer Info-Veranstaltung von „drospa“ teilnehmen. In die Zukunft schaut sie mit gemischten Gefühlen. „Hier weiß noch keiner, wie es mit dem Geld und den Waren wird. Unklar ist auch, ob die HO die Ostware zurücknimmt, denn die kann ich ja nicht für D-Mark verkaufen, obwohl gerade bei Waschmitteln und Kosmetik nicht alles Schund ist“, sagt Ilona Kratofiel und fügt als passionierte Selbständige an, „ich würde mich freuen, wenn ich weiterhin vom Kochtopf bis zur Kosmetik alles im Angebot haben könnte.“

In hellem Ocker erstrahlt seit kurzem die Vorderfront von Heiko Friedrich Uhren-Reparatur-Geschäft im sanierungsbedürftigen Haus Rodenbergstraße 4. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind dagegen alle Häuser renoviert. Der Uhrmachermeister erklärt den seltsamen Fassaden-Unterschied: Die breite Schönhauser Allee war eine „Protokollstrecke“: Wenn die SED-Bonzen in ihren Limousinen nach Pankow rauschten, sahen sie im Vorbeifahren nur eine Seite der Nebenstraßen und „dachten, es sieht alles tipptopp aus“.

Heiko Friedrich hat sein Geschäft am 15.Februar geöffnet, nach Lehre, Meister und „der Fahne“, wie der Wehrdienst in der NVA drüben genannt wird. „Letztendlich, um eigenständig arbeiten zu können. Auch, um mehr Geld zu verdienen, wer sagt, das gehe als Selbständiger nicht, der ist ein Spinner“, erklärt der 27jährige und fügt hinzu, daß er etwa auf das Doppelte des durchschnittlichen DDR-Verdienstes komme. Ein wichtiger Anreiz zur Selbständigkeit, die ihm nach fast einem Jahr Wartezeit gestattet wurde: „Ich kann meinen eigenen Arbeitsstil und Initiativen entwickeln und mich spezialisieren.“

Kann man denn nur mit dem Reparieren von Uhren sein Geld verdienen? „Bei uns bis jetzt ja“, antwortet er und zeigt Flexibilität: „Falls es sich nicht mehr rentiert, kann ich zum Beispiel das Serviceangebot erweitern oder Uhren und Schmuck verkaufen.“ Auch aus seinem Handwerk weiß er zu berichten, was insgesamt die Wut der Bevölkerung auf die SED -Führung erklärt. So seien von „ruhla“ moderne Uhren entwickelt und auch während der Leipziger Messe vorgeführt worden, doch nie in den Binnenhandel gekommen. Friedrich: „Wo die geblieben sind, müssen Sie mal Schalck-Golodkowski fragen!“ Der zu erwartenden Konkurrenz aus dem Westen will der Urmachermeister auch mit „Qualität und kundenfreundlicher Beratung“ begegnen.

Kooperation mit West-Unternehmen

Ganz im Trend der Zeit liegen Klaus Wendlandt und Peter Nothnagel mit ihrer „InterConsult GmbH“ in der Schönhauser Allee 26a. Die beiden Gesellschafter bieten mit zwei Mitarbeitern auch Handelsgeschäfte und die Vertretung ausländischer wie bundesdeutscher Firmen in der DDR an, doch ist ihr Schwerpunkt die Unternehmensberatung. Peter Nothnagel: „Seit rund zwei Wochen bieten wir zum Beispiel Beratung darüber an, was in einem halben Jahr passieren kann, wenn die Steuergesetze der Bundesrepublik übernommen werden.“

Das Besondere dabei: Die Firma hat einen Kooperationsvertrag mit einem Partner in West-Berlin geschlossen. In Kooperationsgesprächen mit „Hellpape und Partner“ sprechen die Ostberliner ab, wer welchen Auftraggeber „besser beraten könnte, und wir teilen uns den ganzen Auftrag oder einzelne Aufgaben arbeitsteilig zu“, erklärt Peter Nothnagel. Das weitere Ziel der Ost-West -Zusammenarbeit ist ein Joint-venture.

Das Spektrum der bisherigen Auftraggeber aus Ost und West reicht von einer Drogistin, die wissen möchte, wie sie gegen starke westliche Konkurrenz bestehen kann, bis zu österreichischen Immobilienfirmen, die in der DDR Grund erwerben und Touristenzentren errichten wollen. Auf weite Sicht will „InterConsult“ laut Nothnagel, der wie sein Mitgesellschafter rund 20 Jahre im staatlichen Außenhandel der DDR und in Firmenvertretungen tätig war, „Klienten, mit denen wir längerfristig zusammenarbeiten können“. Zu den Chancen des neuen Unternehmens meint er: „Gerade in der jetzigen Phase ist die Betätigungsmöglichkeit wegen des großen Nachholbedarfs riesig groß.“ Damit devisenschwache DDR-Betriebe nicht schon bei der Beratung auf der Strecke bleiben, wird mit ihnen in DDR-Mark abgerechnet.

300 Anträge am

Prenzlauer Berg

Wie groß das Interesse an einem eigenen Betrieb gegenwärtig ist, zeigen ausschnittartig die Zahlen aus dem Bezirk Prenzlauer Berg. In der nur für die ÖVW (Öffentliche Versorgungswirtschaft) zuständigen Abteilung von Fred Lemke sind seit Anfang des Jahres 300 Anträge auf Gewerbegenehmigungen eingegangen, die sich meist aufs Handwerk, aber auch benachbarte Sparten beziehen. Lemke: „Es wurden Anträge gestellt, unter anderem für Agenturen, Software-Service, Ingenieurbüros, Industrievertretungen, Änderungsschneidereien und Partnervermittlungen.“ Genehmigt wurden bisher rund 50 Anträge. Im Prenzlauer Berg können Antragsteller jetzt schon eine Zulassung bekommen, wenn als Betriebssitz die Wohnung angegeben wird. Kann dort nicht gearbeitet werden, hat der Antragsteller drei Monate Zeit, sich Räume zu suchen. Lemke: „Mit diesem Trick, den wir als erste eingeführt haben, kann der Antragsteller schon mit der Gewerbegenehmigung in der Hand auf die Suche nach Räumen gehen.“ Der Stadtbezirksrat strebt eine Förderung der kleinen und mittleren Betriebe an. Gern würde er aber auch eine „Auswahl an potenten und leistungsstarken Bürounternehmungen“ sehen, die „sich hier im Bezirk ansiedeln möchten, damit hier neue Arbeitsplätze geschaffen werden.“ Dafür wären Neubauten nötig, verschlissene Häuser können saniert werden und „sicher“, so Lemke, werde auch durch die Verkleinerung der Verwaltung Platz frei.

Der resolut wirkende Abteilungsleiter, der sich bei seinen Entscheidungen über Gewerbezulassungen nach eigenen Worten „in der Regel der Empfehlung der Handwerkskammer“ anschließt, denkt bereits in die Zukunft: „In West-Berlin gibt es keinen Platz mehr. Auf den Zug nach Europa gilt es, in Ost-Berlin einzusteigen.“

Karsten Peters