Der sanfte Sadist

■ Vergangene Woche starb der britische Regisseur Michael Powell. Ein Nachruf.

Seine Produktionsgesellschaft hieß „The Archers“ („Die Bogenschützen“). Dazu angeregt hatte ihn ein Vers des Dichters James Agate, in dem es heißt, es sei immer noch besser, Neapel zu verfehlen, als den englischen Küstenort Margate zu treffen. Die Filme von Michael Powell und seinem Partner, dem Drehbuchautor Emeric Pressburger, verrieten immer Wagemut und Eigensinn: auf eine nationale Kinotradition, aus der sie hervorgegangen waren, möchten sie sich niemals berufen. Zu extravagant waren die Ausschweifungen ihrer Drehbücher, zu obsessiv ihre Charaktere, zu sinnlich ihre Filmbilder, als daß sie sich noch in die landläufige Kategorie britischer Exzentrizität zwingen ließen. Vom Nonkonformisten Powell zum Paria war es nur ein kurzer Schritt: Sein Porträt eines sympathischen Deutschen in Colonel Blimp brachte ihm in Kriegszeiten den Zorn Churchills ein, und Peeping Tom setzte seiner Karriere ein jähes Ende, die schockierende Mixtur aus Sanftmut und Sadismus war seinen Landsleuten unerträglich.

Powell bezeichnete Peeping Tom als einen „Film über das Kino von 1900 bis 1960“. Sein eigenes Leben war ebenfalls untrennbar mit der Filmgeschichte verknüpft, seine faszinierende Autobiographie, deren zweiten Teil er wenige Wochen vor seinem Tod noch vollenden konnte, trug dementsprechend den Titel A life in Movies. Der 1905 in Canterbury geborene Powell war ein Cinephiler, lange bevor man diesen Ausdruck prägte: Schon als Halbwüchsiger radelte er Dutzende von Meilen, um einen Film von Griffith, Chaplin oder Lang zu sehen, später schätzte er unter anderem Disney, Kurosawa und Bergman.

Sein Mentor wurde der Valentino-Regisseur Rex Ingram, ein visueller Stilist, der sich in den zwanziger Jahren, aus Hollywood expatriiert, in den Studios La Victorine in Nizza niedergelassen hatte und dem Powell in den verschiedensten Funktionen assistierte. 1931 inszenierte er seinen ersten Film, Two Crowded Hours und drehte in der Folge „quota quickies“, mittellange Filme, die eine gesetzliche Quotierung britischer Filmstocks gegenüber Importiertem erfüllen sollten. The Edge of the World erregte 1937 die Aufmerksamkeit des Moguls Alexander Korda, der ihn mit Emeric Pressburger zusammenbrachte. Unter dem Logo der „Archers“ (eine Zielscheibe in den Grundfarben des Powellschen Technicolor-Kinos: rot, blau und weiß) scharten sie die Talente des britischen Kinos um sich: den Kameramann Jack Cardiff, die Ausstatter Alfred Junge und Hein Heckroth, die Komponisten Allan Gray und Brian Easdale. Nicht zu vergessen, die stock company ihrer Darsteller: Moira Shearer und Deborah Kerr, Marius Goring und David Farrar, Conrad Veidt und Adolf Wohlbrück. „The Archers“ lösten sich in den späten fünfziger Jahren auf, nach dem Skandal um Peeping Tom wurden Powell nur noch Gelegenheitsarbeiten angetragen.

In den späten siebziger Jahren wurde er jedoch so spektakulär rehabilitiert wie kein Regisseur vor ihm: Retrospektiven in Telluride und London bescherten ihm eine Unmenge von Hommagen, dank der Vermittlung Martin Scorceses fand Peeping Tom wieder einen US-Verleih, seine alten Technicolor-Filme wurden restauriert und wieder aufgeführt. Powell wurde von den Regisseuren der „movie brat„-Generation des neuen Hollywood hochgeschätzt. Scorcese holte seinen Rat ein für die Schwarzweißfotografie von Raging Bull und für die Dramaturgie von After Hours, Coppola engagierte ihn als „creative consultant“ für seine Zoetrope-Studios. Die allseitige Bewunderung konkretisierte sich freilich niemals so weit, daß der nunmehr 80jährige seine langjährigen Filmprojekte hätte realisieren können: Die Adaption der Earthsea-Trilogie der SF-Autorin Ursula K.LeGuin scheiterte ebenso sehr wie ein Historienfilm, den er noch im vergangenen Jahr zusammen mit seinem bewährten Kameramann Jach Cardiff in Angriff nehmen wollte. Powells barocke Leinwandphantasien waren für das Publikum der achtziger Jahre sicher eine eben solche Provokation wie für das Publikum seiner Nachkriegsfilme. Powells Kino treibt die Dinge ins Extreme, er deliriert in der Dramatisierung von scharfen Kontrasten. Spontaneität und romantischer Idealismus begehren auf gegen tradierte Hemmnisse. Die Natur behauptet sich gegen die Tradition. Das Leben ringt mit dem Tod. Kunst und Leben schließlich erweisen sich als unvereinbar.

Am reinsten ist die fatale gegenseitige Anziehungskraft der Pole in Black Narcissus ausmodelliert, der Geschichte einer Handvoll Nonnen, die in einem Himalayakloster den Verführungen farbenprächtiger orientalischer Sinnlichkeit schutzlos gegenüberstehen. Ein literarischer, sich auf das Wort berufender Impuls ist Powells Kino fremd, es kann über weite Passagen auf Dialoge vollständig verzichten, umgekehrt wird jedes visuelle, akustische und musikalische Element zum Sprechen gebracht. Im Kontext des Erzählkinos ist es niemandem so sehr wie Powell gelungen, „Experimental„-Filme zu machen: über das Licht (A Canterbury Tale), über Schwarzweiß und Farbe (A Matter of Life and Death), über den Ton (The Small Back Room).

Oft waren Powell und Pressburger erzähltechnische Bravourstücke ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus: Ein kühner Schnitt in A Canterbury Tale - Powell schneidet vom Flug eines mittelalterlichen Falken auf den eines Weltkriegbombers - nimmt Kubricks berühmte Ellipse aus 2001 fast ein Vierteljahrhundert vorweg, die den Bogen schlägt vom Knochen eines Höhlenbewohners zu den Raumschiffen der nahen Zukunft.

Powell erschloß dem Kino eine kalkuliert verschwenderische niemals beruhigte Technicolor-Palette. Er grundierte seine Bilder mit gedämpften Farben, um dann auf die eindringliche Suggestivkraft seiner leuchtenden, dominierenden Farbe zu setzen. Diese geriet ihm zum sublimen Leitmotiv bei der Charakterisierung seiner Figuren: Daran inspiriert sich das Rot in Scorceses Mean Streets ebenso sehr wie das Blau in Taverniers La vie et rien d'autre.

Es ist nur legitim und logisch, daß Powell zum Mentor junger, leidenschaftlicher Cineasten geworden ist, denn er schien es schon lange vorausgeahnt zu haben: Sein Werk ist bevölkert von Vaterfiguren, die den Protagonisten die Welt offenbaren; bevölkert von Magiern, die die Helden das Sehen lehren: vermittels einer laterna magica, vermittels einer Filmprojektion. Powell hat diese Väter immer zwiespältig gezeigt, sie sind rätselhaft (A Canterbury Tale), besitzergreifend und dominierend (The Red Shoes), schließlich gar schuld am Trauma der Helden (Peeping Tom). Um so bedauerlicher, daß es Powell nicht mehr vergönnt war, sein am längsten und innigsten gehegtes Projekt zu verfilmen, für das er schon die Besetzung (in den fünfziger Jahren: John Gielgud und Moira Sheare, in den siebziger Jahren: James Mason und Mia Farrow) und den Drehort (Ägypten) ausgewählt hatte: Die berühmteste Geschichte eines Vaters, der Magier ist, Shakespeares „Tempest“.

Gerhard Midding