„Sozialer Sprengstoff“ Übersiedler

■ Städtetag rechnet mit bis zu zwei Millionen Aus- und Übersiedlern in diesem Jahr / Späth denkt an Rückkehrprämien

Berlin (ap/taz) - Der Deutsche Städtetag rechnet in diesem Jahr mit 1,5 bis 2 Millionen Aus- und Übersiedlern, darunter 600.000 bis 700.000 aus der DDR.

In einem Interview des Saarländischen Rundfunks erklärte gestern der Vizepräsident des Städtetags, Hannovers Oberbürgermeister Schmalstieg, er befürchte auf dem Wohnungsmarkt gravierende Probleme zwischen Aus- und Übersiedlern auf der einen sowie einheimischen Wohnungssuchenden auf der anderen Seite. „Das ist Sprengstoff, der den sozialen Frieden stark gefährdet“, sagte der SPD-Politiker.

Angesichts des weiter zu erwartenden starken Zuzugs von Aus - und Übersiedlern bewilligte das Bundeskabinett gestern einen 500-Millionen-Zuschuß an die Bundesländer für Übergangswohnheime. Die Länder, die zu diesem Betrag jeweils 25 Prozent zuschießen müssen, hatten vom Bund eine Milliarde DM jährlich für mehrere Jahre gefordert.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth hat gestern als erster CDU-Politiker eine Rückkehrprämie für DDR-Übersiedler „als letzte Möglichkeit, die ich nicht ausschließen möchte“ in die Diskussion gebracht. In einem Interview mit der 'Heilbronner Stimme‘ sagte Späth: „Wenn drüben dann die Wirtschaft läuft, wird man sich sogar Instrumente einfallen lassen können, um die Rückkehr zu unterstützen.“

Als mögliche Instrumente nannte Späth Steuererleichterungen für Rückkehrwillige und eine Regelung, daß Übersiedler ihre Sparkonten in der DDR bei einer Währungsunion nur dann 1:1 tauschen können, wenn sie wieder in der DDR leben. Außerdem könne man an eine direkte Prämie denken. Späth wörtlich: „Wir haben den Türken Rückkehrhilfen gegeben. Warum sollen wir, wenn es notwendig werden sollte, dann nicht auch einen Weg suchen, wie wir etwas dafür ausgeben, daß die Menschen wieder rübergehen (...) Wir müssen uns doch fragen, ob wir zur Behebung der Wohnungsnot nur pro Sozialwohnung 40.000 Mark einsetzen können oder etwas ausgeben, um die Leute dort hinzubringen, wo jetzt die Wohnungen leerstehen.“

Der Deutsche Städtetag erwartet angesichts des starken Zustroms von Aus- und Übersiedlern nach den Worten seines Vizepräsidenten Schmalstieg, daß es zunehmend zu Beschlagnahmungen leerstehender Wohnungen kommt, wie in Berlin und am Dienstag auch in Hamburg bereits geschehen. „Wenn Wohnraum vorhanden ist, muß er nicht nur für Aus- und Übersiedler, sondern auch für einheimische Wohnungssuchende zur Verfügung gestellt werden“, forderte Schmalstieg. Wer jetzt noch aus der DDR in die Bundesrepublik komme, müsse genauso behandelt werden, wie jemand, der im Bundesgebiet umziehen will. „Wer sich dann keine Wohnung besorgen kann, wird als Nichtseßhafter behandelt, für eine Nacht untergebracht und dann in seinen Wohnort zurückgewiesen.“

Schmalstieg äußerte Verständnis für die Absicht der Bundesländer, Notaufnahmelager zu schließen. Eine Rückkehrprämie für Übersiedler, wie sie Baden-Württembergs Ministerpräsident Späth vorgeschlagen hat, lehnte Schmalstieg jedoch ab. „Alles Geld, was wir in der DDR investieren, kostet weniger, als wenn wir Milliardenbeträge bei uns ausgeben und die soziale Situation verschärfen“, sagte er.

Die stellvertretende Vorsitzende der bayerischen SPD und der SPD-Bundestagsfraktion, Renate Schmidt, sprach sich gestern für die Abschaffung jeglicher Sonderleistungen für DDR-Übersiedler aus. Die Bundesregierung müsse endlich Schluß machen mit den Notaufnahmeverfahren und den Eingliederungshilfen. Stattdessen solle das Geld in den Aufbau eines Sozialsystems in der DDR gesteckt werden.

Schleswig-Holstein will sich künftig nicht mehr an der „Adressen- und Objektdatei Ost“ des Bundesamts für Verfassungsschutz beteiligen. Innenminister Bull teilte gestern mit, die von der Spionageabwehr des Bundeslandes eingespeicherten Daten aus Übersiedlerakten würden gelöscht. Die Datei habe mit den Umwälzungen in der DDR den größten Teil ihrer ursprünglichen Zielrichtung verloren.