Ja, Zuckererbsen für Jedermann

■ Süßhunger. Zur Kulturgeschichte des Süßen, ab Samstag im Überseemuseum

Bißchen politische Ökonomie vorneweg: Von den 7.500 (in Worten siebentausendfünfhundert) DM, die dem Überseemuseum 1990 für Sonderausstellungen zur Verfügung stehen, kostet die über den Süßhunger, Zur Kulturgeschichte des Süßen, die am Samstag eröffnet wird, nichts. Muß also nicht die nächste Museumsdirektorin beschleunigt zur Etatstreckung die gleichen krummen Wege beschreiten, die ihrem Vorgänger vorgeworfen werden. Die Uni hat 8.000 Mark gegeben, die Arbeit haben Dieter Richter und Thomas Kleinspehn mit acht StudentInnen der Kulturwissenschaft gemacht.

Die schrauben und wursteln zwei Tag vor Eröffnung zwischen Wannen weißen Zuckers, Zuckerrübencontainer, aufklebten Raider- und Lila-Pausen-Batte

rien, feinen Stichen und schwellenden drei Grazien von Rubens. Die Frage nach der reingesteckten Arbeitszeit beantworten sie mit Gelächter. „Das waren zwei Semester in einem“, sagt eine. Seit Januar haben sie nichts anderes gemacht als dieses.

Und siehe, es war wohlgetan. Vieles ist zu sehen, was in Dieter Richters weitgefaßtem Begriff von Kulturgeschichte Platz hat, der die Geschichte der Sitten, der Mentalitäten und schöne Künste nicht von der der Produktionsweisen abschottet. Nur den Satz „Zucker führt zu Karies“ nebst zeigefingernden Stelltafeln wird man vergeblich suchen. Diesen moralischen Ansatz wollen wir gerade nicht, sagt Thomas Kleinspehn. Er sieht ihn als Teil des Lust-und-Panik -vor-den-Folgen

Syndroms, das mit der bürgerlichen Gesellschaft aufkam. Aus der realen Gefahr des Massenzucker-Konsums werden z.B. den Kindern Zuckerhorrorphantasien einpädagogisiert, was sich da Verzehrendes in ihrem zuckerbegehrenden Innern abspielt, und just aus dieser Panik entstehe neue Angstlust.

Zucker und Salz, schreibt Dieter Richter in seiner Einleitung zum Katalog, seien die physiologische Basis der europäischen Zivilisation und extreme Gegensätze in ihrem wirtschafts- und kulturhistorischen Profil. „Im 15. Jahrhundert lag der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Salz in Mitteleuropa bei 10 Kilogramm; heute beträgt er, nicht wesentlich davon unterschieden, zwischen 5 und 6 Kilogramm. Ganz anders die Erfolgsgeschichte des Zuc

ker: Nur 20 bis 25 Gramm verbrauchte man davon durchschnittlich pro Kopf und Jahr im Europa des 15. Jahrhunderts; heute sind es, in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum 35 Kilogramm. In anderen Worten: Wir verbrauchen heute an einem einzigen Tag die gleiche Menge an Zucker, die einem Menschen damals in 5 Jahren zur Verfügung stand.“

Die Araber brachten auf ihrer Eroberung des Mittelmeerraumes den 'succar‘ mit. Von Sizilien und Venedig wird Zucker im 12. Jahrhundert nach Deutschland gehandelt, in kleinen Dosen, wie Ingwer, Zimt und Kardamom, als Medizin. Süßstoff, der den Geschmack der europäischen Aristokratie versüßte, wurde er als Exportartikel der mit Sklaven wirtschaftenden amerikanischen

Plantagenwirtschaft. Mit der süßen Tasse Kakao wird repräsentiert. Die süßen Früchte, Pralinen und Kuchen werden aber auch zu Symbolen der weiblichen Sinnlichkeit. Wenn Bauarbeiter heute Passantinnen in ihren Sommerkleidern „vernaschen“, stehen sie damit in einer metaphorischen Tradition, die Adel und Großbürger im Barock erfunden haben.

„Dein Nabel, mein Leben /nach Bechers-art eben / ist sauber und rund; Da süßer Wein fließet / sich reichlich ergießet / und füllet ihn wieder und feuchtet den Grund.“ So dichtet im 17. Jhdt. Philip von Zesen und ersatzhandelt auch da schon für verbotene Wünsche.

Wieso dann der Zucker, im 19. in die Küche der Kleinen Leute, im 20. in die lila Pause eingewandert, den Zeitrhythums der Moderne und die „Kultur des Simultanen“ ermöglichte, das erklärt dann besser die Ausstellung im Überseemuseum selber.

Uta Stolle