QUAL DER WAHL

■ Ein Hilfsprogramm

Jahrelang quälte sich der demokratieerprobte Westler um den demokratielosen Ostler, durfte der doch nie den Kitzel politischer Teilhabe spüren, wenn er, dem Pfeil mit der vertrauten Farbe folgend, sein Kreuzchen machte; hatte der doch nie die Freiheit der Alternative, zwischen asozialer Marktwirtschaft und soziokulturellem Supermarkt zu wählen; konnte der doch nie vier Jahre lang mitwalten und - schalten mit einem einzigen Strich in der (Parteien) landschaft usw. Und jetzt dürfen die das alles und wissen nicht was. In dieser zugegebenermaßen ausweglosen Lage hat sich das frischgegründete 'blatt‘ des orientierungslosen Wahlvolks angenommen und bietet ein Hilfsprogramm an. Wir dokumentieren dieses auch für Westkreuzer nicht unwichtige Zeitstück.

Der Tag rückt näher. Viele der mündigen Bürgerinnen und Bürger sind noch unentschlossen. Wohl dem, der in einer Partei ist. Der weiß, wen er ankreuzen kann. Welche Möglichkeiten gibt es, die Qual der Wahl zu lindern?

Bei den alten Germanen

abkupfern?

Schon aus altgermanischen Zeiten hört man von der Wahl der Könige durch das Volk.

Bei den meisten Stämmen wurde der Kandidat auf den Schild gehoben und dreimal im Kreise herumgetragen. Fand er den Zuspruch der Männer, so sprangen sie jauchzend in die Höhe, schlugen die Waffen zusammen, dabei riefen sie ihm „Heil!“ zu. - Am Ende bekam der Gewählte als sichtbares Zeichen seines Amtes eine Lanze in die Hand gedrückt. Leider verdrängte das Erbrecht über lange Jahrhunderte hinweg dieses urdemokratische Ritual. Erst das Aussterben des deutschen karolingischen Hauses und der dadurch entstandene Mangel an Nachschub machte Wahlen wieder erforderlich. Dennoch fehlte schon etwas: Das Volk diente zu dieser Zeit schon nicht mehr als Wähler, sondern nur noch als Zustimmer, die Vorauswahl der Kandidaten oblag der hohen Geistlichkeit, und das kommt uns sehr bekannt vor, ebenso wie eine andere Kleinigkeit: Ein förmliches Auszählen der Stimmen war nicht üblich. Zum erstenmal legte man auf dieses Prinzip der Stimmenmehrheit 1338 im ersten Kurverein Wert. Auch das Durcheinander in bezug auf den Wahlort wurde beendet: Es wurde einheitlich in Frankfurt gewählt. Ab da ging es also ordentlich und profan zu.

Nutzen Sie also die Erfahrung der ganz Alten und versuchen Sie zu jauchzen zu den Werbespots der Parteien im Fernsehen! Vom Schild schubsen können wir die Kandidaten erst in vier Jahren.

Meinungsumfragen

eine Gewissensstütze?

Neuerdings gibt es bei uns Umfragen vom Zentralismus für Jugendforschung und dem Institut für Marktforschung zum Wahlverhalten der DDR-Bevölkerung. Sie werden aus eigenem Antrieb der Institute vollig unbestellt durchgeführt und sind zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung in der Presse etwa drei Wochen alt, also nicht gerade brandneu.

Obgleich Umfragen dieser Art an jede Bürgerin und jeden Bürger des Landes adressiert sind, nützen sie dem Wähler eigentlich gar nichts. Es sind eher Momentaufnahmen, sie zeigen, wie es ist, aber nicht, wie es sein sollte, oder was an Politik zum Schluß auf uns zukommt. Für die Erwählten beziehungsweise, die, die es werden wollen, sind die Umfrageergebnisse eher von Interesse. Sie werden sich doppelt anstrengen, wenn sie schlecht weggekommen sind. Uns als Wähler bleibt nur die Entscheidung, entweder das stärkste Lager weiter zu stärken oder dagegen anzustinken. Doch das war uns auch ohne Statistik klar...

Exklusiv für 'das blatt‘ antworteten 56 potentielle Wählerinnen und Wähler auf die Frage: Welchen Spitzenpolitiker würden Sie nachts in der Bar 200 Mark borgen?

Hier die Liste der Vertrauenswürdigen mit der Anzahl ihrer Gläubiger:

Modrow22

Gysi15

Weiß4

Schorlemmer3

Ullmann2

Böhme1

Reich1

8 Befragte verborgen niemals Geld. Anmerkung der Redaktion: Frauen wurden nicht genannt.

Umfrage - eine Woche alt

Wodurch lassen Sie sich beeinflussen bei der Entscheidung für eine Partei?

Die überwiegende Mehrheit läßt sich durch Schwerpunkte der Programme leiten, wenige durch die jeweiligen Gesamtprogramme.

Andere Motive lauten wie folgt: - männlich, 30 Jahre, NDPD -Mitglied: „Wenn ich mich entscheide, dann gehe ich nach Auftreten und der Kleidung der Politiker.“ Darüber sprechen mehr Menschen, als man meinen sollte: - weiblich, 30 Jahre, PDS-Mitglied: „Der Böhme von der SPD gibt sich ja Mühe, ordentlich auszusehen, aber nie hat er passende Socken an.“

-weiblich, 51 Jahre, parteilos: „Gut angezogen sind Gysi, de Maiziere und auf seine legere Art Konrad Weiß. Daran kann man sich orientieren.“ - männlich, 46 Jahre, parteilos: „Ebeling und de Maiziere, das sind nicht solche zwielichtigen Gestalten, die sehen wenigstens wie Politiker aus.“

Weitere Motive, sich zu entscheiden: - weiblich, 50 Jahre, ohne Aussage über Mitgliedschaft: „Ich wähle SPD. Der Böhme ist mir nicht sympathisch, aber der Vogel von drüben.“ weiblich, 22 Jahre, parteilos: „Vielleicht wähle ich PDS, den Gysi nämlich, den finde ich super.“ - männlich, 49 Jahre, ohne Aussage über die Mitgliedschaft: „Ich würde ja Modrow wählen, der tut mir nämlich leid, so neben dem gewaltigen Kohl. Der hat sich für das Land abgestrampelt. Wenn da nicht die PDS dranhinge...“ - weiblich, 56 Jahre, parteilos: „Ich wähle die Zahlungskräftigsten für unser Land. Und das ist nun mal die CDU und alle, die da mitmachen.“

Die Telefondrähte glühten bei folgenden Gesprächen: Ein VP -Revier:

-Haben Sie sich schon entschieden, wen Sie am 18. März wählen werden?

-Darüber kann ich nicht mehr entscheiden, die Polizei ist unpolitisch.

Ein Schonsteinfegermeister:

-Wissen Sie schon, wen Sie wählen werden?

-Nein, das ist ist ja auch noch ein bißchen hin. Es gibt ja so viele Parteien. Keiner hat richtige Grundlagen. Es ist ja noch Zeit.

Eine Fürsorgerin in der Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstelle:

-Können Sie uns verraten, wen Sie wählen werden?

-Das ist bei mir eine fließende Angelegenheit. Erst wolle ich ja SPD wählen, aber die sind mir zu hektisch. Jetzt beleuchte ich gerade dieses Wahlbündnis, wo der Konrad Weiß drin ist.

Ein Bestattungsunternehmen:

-Bitte sagen Sie uns, wen Sie wählen werden!

-Oh, das geht hier am Telefon wirklich schlecht, es sind Kunden im Geschäft.

Telefon des Vertrauens:

-Wenden sich Leute an Sie, um in Sachen Wahlen beraten zu werden?

-Ja, es haben schon einige angerufen.

-Geben sie konkrete Empfehlungen?

-Um Himmels Willen, nein!

Am Rande belauschte

Wahlhilfen?

Auf dem Parteitag der LDPD hält Mischnick von der FDP (West) diese und jene Änderung am Programm für erforderlich und hat überhaupt jede Menge Einwände. Alles liebedienert: „Jawohl, Herr Mischnick... Sie haben ganz recht, Herr Mischnick...“ Hajo R. aus Obercunnersdorf pfeift auf das Kopieren der West-Partei und legt als Delegierter dieses Parteitages kurzerhand sein Parteibuch auf den Tisch und geht mit erwachtem Selbstwertgefühl nach Hause.

In Bischofswerda wird sich das Neue Forum auflösen und die Ortsgruppe der SPD stärken.

Seit drei Wochen ist ein Brief der NELKEN an Modrow, Gerlach und Maleuda unbeantwortet, in dem sie das jeder Partei zustehende Geld einklagen. Sind Rosas NELKEN schon das erste Opfer des Parteiengerangels?

Ebeling, der Vorsitzende der DSU, bestimmt nicht nur hemmungslos über die Bedürfnisse von Frauen in der Berufstätigkeit, er wird demnächst wohl auch mit seinen Mitgliedern Programmsätze pauken. So kennt er es jedenfalls noch aus seiner Jugendgemeinde, wo die Teilnehmer Bibelsprüche auswendig lernen mußten.

Aus dem Tagebuch

einer Journalistin:

Heute mußte ich mich in ziemliche Gefahr begeben: Im Rundfunk wurde gestern nämlich bekanntgegeben, daß heute eine Extranummer des 'stern‘ an die DDR-Leute ausgegeben wird. Der Inhalt: Programmatik von zehn Parteien und Bewegungen. Ich wurde halb über das parkende Auto gezerrt, und die Strumpfhose war auch hin, als ich das Heft endlich in der Hand hielt. Ich zapfte aber nicht landeseigene Quellen an und bettelte bei allen Parteien und Bewegungen um Schriftstücke und Wahlplakate. Nach vier Tagen hatte ich alles zusammen. Habe mich in mein Zimmer eingeschlossen und die Analyse der Materialien begonnen. Ich sortiere nach Inhalten...

Bin immer noch beim Sichten, es werden immer weniger verschiedene Stapel... Heute habe ich meine Sortiererei beendet. Das Resultat ist verblüffend: Neun Wochen zuvor waren noch Unterschiede auszumachen gewesen zwischen Parteien, die sofort die soziale Marktwirtschaft wollen, solchen, die sie erst später wollen und solchen, die sie gar nicht wollen. Doch die Gewalt der Tatsachen erzeugt Umdenken und Umformulieren. All und jede Partei und Bewegung hißt die weiße Flagge vor der sozialistischen Marktwirtschaft. Genau dasselbe Spiel wiederholte sich später mit der deutschen Einheit und jetzt gerade mit der Währungsunion.

Habe soeebn eine Erkenntnis gewonnen: Jede Einsicht in den unaufhaltsamen Gang der Dinge bezahlen die Parteien und Bewegungen mit dem Verlust der Unterscheidbarkeit des verbal Geäußerten.

Monika hat mich angerufen. SIe als versierte Wahlkampfkennerin drüben hatte nur ein müdes Lachen für mich übrig. Wie könne man nur aus WORTEN vor der Wahl etwas herauszufinden suchen! Na, ein bißchen mehr traue ich den Leute von hier schon noch zu...

Habe noch nicht aufgegeben: Renne mit ein und derselben Frage zu den vielen Vorständen der Parteien und Sprechern von Bündnissen. Mit einer Frage, die für mich persönlich schon wichtig ist: Wie sieht Ihre Sozialpolitik nach dem 18. März aus?

Manche wollen es aufschreiben, zu Schnur, de Maiziere und Maleuda darf ich hinein. Wenn sie einem gegenüber sitzen, muß ich mich zwingen, an meine Arbeit zu denken. Nicht die Eindrücke, die Antworten zählen. Es geht schließlich um die Leser...

Fast alle Antworten sind beisammen! Alle wollen den sozial Schwachen helfen, alle wollen sich für die Arbeitslosenunterstützung einsetzen. Alle, außer der DSU wollen die Kinderbetreuung, das Schulessen möglichst sichern. Alle wollen Umschulungsmaßnahmen. Alle wollen den Subventionsabbau abfedern. Wer redet, weil er muß, und wer meint es ernst?

Wahlspots

was bewirken sie?

In den Ländern mit einem entwickelten Wahlkampf und trainierten Wählern sehen etwa 40% der potentiellen Wähler Sendungen, in denen Parteien ihre Programme vorstellen. Von diesen Zuschauern verfolgen lediglich 80 bis 85% die Sendung der Partei, die sie zu wählen gedenken. Summa summarum bleiben von der Gesamtmasse der Wahlberechtigten etwa 6 bis 8% übrig, die damit beeinflußbar sind.

Psychotherapeuten raten:

Für die Zeit vor der Wahl:

-Der Nachtschlaf darf auf gar keinen Fall verlängert werden. Der Anteil der Menschen, die unangenehme Träume haben, ist gestiegen.

-Nutzen Sie die Vorfrühlingsabende für Spaziergänge. Die gedankliche Auseinandersetzung mit den Wahlplakaten ist wegen der Sauerstoffanreicherung im Gehirn im Laufen besser zu bewältigen.

-Meiden Sie politische Diskussionen ohne eigene gründliche Vorbereitung. Fehlende Argumente führen nicht selten zu Blockierungen und der Widerpart hat dann leichtes Spiel mit Ihnen.

-Die beste psychische Vorbereitung besteht darin, mehrmals hintereinander tief Luft zu holen und seufzerartig wieder auszustoßen.

-In diesen Zeiten sind Kurzgeschichten von Hemingway und Gedichte von Eluard die geeignete Lektüre. Auf Grund der Schwankungen des Blutdrucks sind die Mittagsstunden und die Zeit von 20.30 bis 22 Uhr dafür am günstigsten.

Für den Wahltag selber:

-Gehen Sie den Tag wie einen gewöhnlichen Sonntag an. Frühstücken Sie gemächlich mit Ihrer Familie. Gönnen Sie sich ruhig von allem etwas mehr.

-Wenn Sie sich auf den Weg machen, vergessen Sie nicht, Ihre eigenen Kugelschreiber mitzunehmen.

-Bleiben Sie bei Ihrem Entschluß. Sie haben in in langer und reiflicher Überlegung gefaßt. Er ist der richtige.

-Fahren Sie am Nachmittag hinaus in die Natur. Der Rest der Wahl wird ohnehin ohne Sie stattfinden.

-Falls Sie nicht umhin können und sich im Fernsehen den Ausgang der Wahl ansehen, dann versuchen Sie Abstand zu bewahren. Verlassen Sie ruhig ab und an den Raum und erledigen kleinere Tätigkeiten im Haushalt.

-Lassen Sie den Abend ruhig ausklingen mit einem Konzert, etwa ein Violinenkonzert von Mendelssohn Bartholdy.

Sinnsprüche zur Wahl:

Wählerinnen sind Sie nicht, aber Kennerinnen, so läßt Goethe im Faust über Frauen sprechen. Werden wir über uns sagen können: Kenner sind wir und deshalb Wähler?

Wenn zwei Zeiten sich scheiden und alles, was man bisher fest verankert glaubte, plötzlich von einem Strudel erfaßt wird und Zukünftiges mehr noch in der Ahnung lebt als in der organisierenden Vernunft, dann kann die Fragestellung nicht lauten: Wollen wir politisch sein?, sondern: Können wird es überhaupt verhindern, politisch zu sein? (Ossietzky)

Dr. Beate Benz