„Ein Volk, ein Reich, jetzt Bier her!“

Fußball-Länderspiel Frankreich - BRD 2:1 / Deutsche Fußballfans rufen Erinnerungen an die Besatzungszeit wach  ■  Aus Montpellier Nikolas Marten

Montpellier war nach der mißlungenen 68er-Revolution für französische Barrikaden-Akademiker wie für deutsche APO -Intelligenz das ersehnte und gesuchte schöngeistige Exil. Die ehemalige Hugenottenbastion offerierte den Umstürzlern neben Wein, Sonne und Meer vor allem medizinische und jurisprudente Weisheit an den aufklärerisch-protestantischen Fakultäten. Heute ist die Mittelmeerstadt das Renommierstück französischer Sozialisten in Sachen High-Tech und Zukunftsindustrie.

Für drei Tage wurden die älteren Bewohner der romanischen Provinzmetropole nun unangenehm an Hitlers Invasoren erinnert. Mit der bundesdeutschen Fußball-Nationalmannschaft unter ihrem cosmopolitischen Dirigenten „Kaiser Franz“ besetzte eine arisch ver-rep-te Fangruppe in Kompaniestärke den frisch instandgesetzten Stadtkern. Mit Hakenkreuzemblemen auf dem Rücken und bettlakengroßen Schwarz-Rot-Gold-Bannern wurden Bistros und Bars im Stechschritt genommen. „Ein Volk, ein Reich, jetzt Bier her“, schallte es aus spätpubertären Kehlen immer wieder an den Tresen. Ein 20jähriger Hilfsarbeiter aus Itzehoe, man ruft ihn „Butscher“, brachte sein Weltbild auf den Punkt: „Zwei Kriege hat das deutsche Volk verloren - den dritten gewinnen wir jetzt hier.“

Nachts, während die germanischen Edelkicker nach Fünf-Gänge -Menü im fürstlichen Hotel Maison Blanche am Rande der Stadt ihr Video-Reservoir leerten, wurde im Zentrum von den Kahlschädeln „Gallierjagd“ nach westgotischer Manier gemacht. Bis zum Spiel waren schon vierzig Prügelteutonen in Haft, das Zehnfache an Fensterscheiben kaputt, und der deutsche Tourismusbeauftragte sorgte sich im Lokalfernsehen um sein Sommergeschäft.

Am Mittwoch abend meldet „Radio Mediterranee“ Sturm und Orkan. Zerrissene Wolken, der Mistral bläst wild und rüttelt an den lichten Pinien. Menschenkolonnen wie Autokarawanen quälen sich zum „Stade de la Mosson“, der nicht ganz fertiggestellten Fußball-Betonburg. Der Architekt hat sich sichtlich von den noch immer an der Küste dahinrottenden Westwallbunkern inspirieren lassen. Um Viertel vor neun, die deutsche Hymne ist von den Hooligans erststrophig intoniert worden, trillert die Pfeife des spanischen Schiedsrichterneulings Marcos Ramos das Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland an.

Schon nach wenigen Minuten offenbaren sich eklatante Spielschwächen der westdeutschen Auswahl. Jean-Pierre Papin, Stürmerstar aus Marseille, stellt von Beginn an die Defensivreihe um Bayern-Libero Klaus Augenthaler vor Probleme. Schon nach 160 Sekunden verzieht Ferreri von Tabellenführer Bordeaux eine Papin-Kopfvorlage nur knapp. Während sich die deutschen Anhänger mit Einheimischen Zitrusfruchtschlachten liefern, kratzt sich „Schaumermal„ -Franzl energisch die Naturkrause.

Die Abwehr um „Auge“, Brehme und Reinhardt läßt sich immer wieder von den schnellen hakenschlagenden Tricolore-Stürmern austricksen. Nach einer halben Stunde haben allein Papin und der von Teamchef Platini rehabilitierte exzentrische Cantona fünf klare Einschußmöglichkeiten zur Führung.

Die erzielt dann überraschend der Falsche. Nach der einzig gelungenen deutschen Ballstaffette paßt der Kölner Lilliput -Dribbler Häßler in der 37. Minute zum römischen Vorzeige -Popper Berthold, der flankt in den Strafraum und dort wartet schon die bleiche Stirn des hessischen Investitions -Objekts Möller auf die gesteppte Lederkugel. Unhaltbar findet sie den Weg in die Netzmaschen.

Die Partie bessert sich nicht, bis zwei Minuten vor der Halbzeit der beste Spieler auf dem Rasenrechteck, der langmähnig-schwarzgelockte Pardo, den Ball in den Lauf des wuseligen Papin zirkelt und der den überfälligen Treffer zum 1:1 erzielt. Stehkünstler Augenthaler lamentiert noch nach dem Spiel ein nicht vorhandenes Abseits.

Was von Chronisten gern Pausentee genannt wird, mutiert hier zum „Pausenblut“. Plötzlich haben die Kopfrasierten, die zuvor ihre Rechte nur zum deutschen Gruß streckten, beide Hände voll mit Fahnenstangen, Baseballschlägern und geköpften Flaschen. Behelmte Flics mit schwarzglänzenden Prügelgerät preschen hinzu. Derweil auf dem Rasen bügelfaltige Fremdenlegionäre Militärmärsche intonieren, platzen rote Wunden auf Nazischädeln, krümmen sich getroffene Ordner auf den Treppen, schreien Unbeteiligte, von Leuchtspurmunition und Knallraketen aus deutschen Silvesterbeständen getroffen. Mit Nierenschlägen und Unterleibstritten trommeln zwei Hundertschaften Ordnungshüter den braunen Mob aus dem Stadion. „67 Verletzte, davon zwei mit Schädelbrüchen und einer mit verlorenem Auge“ meldet das Sicherheitsbulletin nach dem Abpfiff lapidar.

Zu Beginn des zweiten Spielabschnitts versuchen die fußballernden deutschen Gäste über Kampf, also Rennen und Kloppen, ins Spiel zu kommen. Doch die Dribblings enden mit hilflosen Rückpässen, Flanken werden abgefangen, Pässe landen im Aus und besonders der fränkische Raumausstatter Matthäus demonstriert die Probleme mit seinem erlernten Handwerk. Nur einmal, in der 69. Minute ist der Schwaben -Adonis Klinsmann allein auf dem Weg zum Tor, doch der ausgezeichnete Keeper Martini rettet.

Ganz anders die Einheimischen. Die von Trainer Platini neukomponierte Mannschaft beweist neben hohem technischen Vermögen erstaunliche Kondition. Immer wieder überlaufen die Außenstürmer Cantona und der später ins Spiel gekommene gebürtige Tahitianer Vahirua die schlappe Abwehr. Letzterer ist es auch, der nach einem furiosen Sololauf den Ball zu Eric Cantona hebt, der in der 82. Minute den 2:1-Siegtreffer mit schulmäßigem Kopfstoß markiert.Genau 100 Tage vor dem Eröffnungsspiel der WM in Mailand zeigte eine lust- und hilflose deutsche Kickertruppe, warum sie nicht zu den Favoriten für das Weltturnier gezählt werden will.

FRANKREICH: Martini - Boli (49. Blanc) - Amoros, Casoni Pardo, Garde, Di Meco, Deschamps, Ferreri (64. Vahirua) Papin, Cantona.

BRD: Illgner - Augenthaler - Alois Reinhardt, Brehme Berthold, Häßler, Möller, Matthäus, Bein - Riedle (66. Littbarski), Klinsmann.