Greifswald: Keine Stillegung vor der Wahl

Die vom Runden Tisch beauftragte Sicherheitskommission lieferte gestern in Ost-Berlin eine erste „Zwischeneinschätzung“ ab / Trotz haarsträubender Mängel konnten sich die Minister vom Runden Tisch im Kabinett Modrow mit ihrer Stillegungsforderung nicht durchsetzen  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Die Blöcke I und IV der maroden Atomzentrale in Greifswald werden trotz haarsträubender Sicherheitsmängel vor den Wahlen am 18. März nicht abgeschaltet. Im Kabinett Modrow haben sich die acht vom Runden Tisch entsandten Minister mit ihrer Forderung nach sofortiger vollständiger Stillegung der Anlage nicht durchsetzen können. Staatsminister Matthias Platzek von der Grünen Partei erklärte gestern in Ost-Berlin, er halte die Weigerung des Kabinetts, sofort über die Abschaltung des Atomkraftwerks zu entscheiden, „nicht für verantwortbar“.

Um nicht der allgemeinen ökonomischen auch noch eine „neue politische Krise“ hinzuzufügen, wolle jedoch kein Vertreter des Runden Tisch die „Regierung der nationalen Verantwortung“ wegen dieser Frage verlassen. „Wir müssen den 18. März erreichen“, betonte Platzek. Modrow hatte sich während der Kabinettssitzung beklagt, daß Regierungmitglieder im Zusammenhang mit der Greifswald -Diskussion auch öffentlich gegensätzliche Positionen verträten und dabei insbesondere Sebastian Pflugbeil vom Neuen Forum angegriffen.

Platzek äußerte sich anläßlich einer „Zwischeneinschätzung zum Sicherheitsrisiko des AKW Greifswald, die die von Pflugbeil angeschobene und vom Runden Tisch berufene Kommission um den Atomkritiker Professor Klaus Traube gestern im Haus der Demokratie vorstellte. Traube erklärte, die bislang zugänglichen Unterlagen reichten zwar nicht für eine komplette Sicherheitsanalyse. Jedoch belegten bereits die „lückenhaften Informationen ein außergewöhnlich hohes Risiko für ein katastrophales, Tschernobyl-ähnliches Versagen“.

Schon Mitte Februar hatte die von Bundesreaktorminister Klaus Töpfer und im wesentlichen von der stramm atomfreundlichen Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) in Köln getragene Sicherheitskommission die sofortige Abschaltung der Blöcke II und III in Greifswald empfohlen. Der Grund: Die sogenannte „Sprödbruch-Temperatur“ der Reaktordruckbehälter habe sich bedenklich der Betriebstemperatur genähert. Unterhalb der Sprödbruch -Temperatur, die sich aufgrund der Strahlenbelastung im Laufe eines Reaktorlebens immer weiter erhöht, breiten sich auch kleine Risse im Reaktorkessel schlagartig und ohne Vorwarnung bis zum Bruch aus. Tatsächlich sei die „Sprödbruchsicherheit des Reaktordruckbehälters in Block IV ähnlich ungeklärt“, betonte Traube. Zudem seien Proben, die nach einer 1988 an Block I durchgeführten sogenannten „Ausheilungsglühung“ entnommen worden waren, bis heute nicht untersucht. Der Erfolg der Glühaktion stehe deshalb in den Sternen.

Als „mindestens gleich gravierend wie die Werkstofffrage“ bezeichnete Traube eine ganze Reihe weiterer sicherheitsrelevanter Komplexe in Greifswald. Das Havarie -Kühlsystem für die Notkühlung sei „äußerst schwach dimensioniert“. Während in heute üblichen West-Reaktoren Leitungsabrisse bis zu einem Durchmesser von 500 Millimeter beherrscht werden könnten, reiche das Pumpensystem im KKW Nord gerade mal für den Riß einer 32-Millimeter-Leitung. Gerade die Gefahr großer Lecks sei jedoch besonders groß, weil unter anderem Hunderte der sogenannten Nadelrohre des Dampferzeugers geschädigt und die Leckagekontrollen in der Atomzentrale offensichtlich „unzureichend“ seien. Selbst der Durchriß einer 200-Millimeter-Leitung am Primärkreislauf sei „bei einer Revision nur durch Zufall entdeckt worden“.

Außerdem beklagte Traube „zahlreiche schwerwiegende Mängel“ hinsichtlich der Dimensionierung, der räumlichen Anordnung, der sogenannten Redundanz (Mehrfachauslegung) und „Vermaschung“ sicherheitsrelevanter Komponenten. Dies gelte für den Brandschutz ebenso wie für die Notstromversorgung und das Notspeisesystem. „Jeder einzelne dieser Problemkreise“, resümierte Traube, „müßte für sich allein zur Stillegung aller Blöcke führen.“ Er persönlich glaube auch nicht, daß „durch Rekonstruktionsmaßnahmen ein akzeptables Sicherheitsniveau erreicht“ werden könne.

Die Kritik der deutsch-deutschen Sicherheitskommission des Runden Tischs, an der aus der BRD auch Vertreter des Öko -Instituts und der Gruppe Ökologie in Hannover (GÖK) beteiligt sind, deckt sich in weiten Bereichen mit den im Zwischenbericht der GRS-Kommission enthaltenen Ergebnissen. Helmut Hirsch von der GÖK bezeichnete die auf die Blöcke II und III begrenzte Stillegungsempfehlung als „nicht ganz nachvollziehbar“. Michael Sailer (Öko-Institut) erinnerte daran, daß die sowjetischen Reaktoren der Baureihe WWER 440/V 230 nicht nur in Greifswald, sondern auch in der Sowjetunion selbst, in der CSSR und in Bulgarien betrieben würden. Eine Stillegungsentscheidung in Greifswald werde also nicht ohne Rückwirkungen auf andere Standorte bleiben. Dies und die Abhängigkeit der Region Greifswald von der Atomzentrale seien einer sachgemäßen Entscheidung nicht gerade förderlich. Sailer wies außerdem darauf hin, daß der kleine 70-Megawatt-Reaktor in Rheinsberg nördlich von Berlin nicht mal Gegenstand einer Sicherheitsüberprüfung sei.

Inzwischen ist immerhin die GRS-Empfehlung umgesetzt: Nach Block II wurde am Mittwoch auch Block III vom Netz genommen. Mit drei Tagen Verspätung. Den Grund erfuhr die Öffentlichkeit nicht von den Betreibern in Greifswald, sondern gestern von Sebastian Pflugbeil: Wegen einer Panne im Primärkreislauf mußte am vergangenen Freitag Block I vorübergehend heruntergefahren werden. Block III blieb länger am Netz.