Hochmut kommt vor Kohls Fall

■ Der Bundeskanzler nimmt die Ängste der Polen, die immer noch ohne Grenzgarantie sind, nicht ernst

Der jüngste Freudsche Versprecher von Helmut Kohl (seinem Unbewußten beim Besuch in Camp David entsprungen) bezog sich zwar auf die Wiedervereinigung, würde aber genausogut zu seiner Weigerung passen, die polnische Westgrenze engültig anzuerkennen. „Ich plädiere dafür“, so sprach er, „das nicht in Hast zu machen, sondern mit Überlegenheit.“ Das nehmen ihm (nicht nur) die Polen übel.

Im „Studio Baltyk“ des Stettiner Rundfunks ist es kurz nach sechs Uhr morgens, als Zbyszek das Mikrophon aufdreht: „Liebe Hörerinnen und Hörer, wir haben die Ehre, Ihnen heute wieder einmal eine Diskussion anzukündigen, heute zum Thema Angst vor den Deutschen. In den nächsten zwei Stunden können Sie dazu unmittelbar unserem Gast aus Deutschland im Studio ihre Meinung sagen.“ Der angekündigte Studiogast ist der Warschauer taz-Korrespondent. Kaum ist die Telefonnummer bekanntgegeben, beginnt der einzige Apparat im Studio regelrecht heißzulaufen.

Zbyszek ist es gelungen, seine Hörer bei der Ehre zu packen und entsprechend reagieren sie: „Wir Polen haben keine Angst vor nichts und niemandem“, meldet sich der Nationalstolz zu Wort. Doch in vielen Fällen zeugen die Wortmeldungen eher vom Gegenteil. „Ich habe keine Angst vor Ihnen“, meldet sich eine junge Frau zu Wort, „ich hasse Euch ganz einfach, dafür, daß Ihr uns Polen so erniedrigt habt, und dafür, daß Ihr das jetzt wieder tut.“ Immer wieder kommen Anrufer auf die Ereignisse in der DDR zurück, auf Aufschriften wie „Nur für Deutsche“ und „Kein Verkauf an Polen“ in den Läden.

Eine Frau aus Swinoujscie empört sich über Touristen aus der DDR: „Was die hier aufführen, übersteigt jede Vorstellung.“ Von seiten der Bundesrepublik fürchtet man eher, „aufgekauft“ zu werden. Und immer wieder taucht in den Anrufen das Gespenst eines „neuen Ribbentrop-Molotow-Paktes“ auf: „Ich habe keine Angst vor den Deutschen, aber ich fürchte mich vor einer Wiederholung der Geschichte, daß man sich wieder auf unsere Kosten einigt.“

Auch ein 23jähriger Stettiner hat keine Angst, schon gar nicht, daß die Deutschen kommen und ihre Ostgebiete wiederwollen: „Die sollen nur kommen, die haben schon viermal einen auf die Nase gekriegt, dann kriegen sie's halt noch mal. Mein Großvater hat gegen die Deutschen gekämpft, mein Vater hat gegen die Deutschen gekämpft, wenn's soweit ist, werd ich auch gegen die Deutschen kämpfen.“

Dazwischen melden sich auch solche zu Wort, die nichts gegen eine Wiedervereinigung oder die Deutschen allgemein haben, die auch nicht glauben, daß Polen Gefahr droht, deren Überlegungen aber meist in dem Satz münden: „Wenn Euer Kohl nichts von uns will, warum drückt er sich dann vor einer klaren Äußerung zu unserer Grenze?“

Zu der Grenze, die nur 14 Kilometer vom Funkhaus entfernt verläuft, haben besonders die Stettiner ein besonderes Verhältnis. Zuletzt ist die Grenze ins Gerede gekommen, als die DDR den Streit um die Oderbucht vom Zaun brach, Anspruch auf polnische Hafenanlagen erhob und begann, polnische Segler und Handelsschiffe zu schikanieren und aufzubringen. Ein vorläufiges Ende fand der Streit erst mit dem Berliner Vertrag vom letzten Jahr, doch in Stettin ist man mit dem Kompromiß unzufrieden.

Stettiner Hafenlobbyisten wie der Solidarnosc-Abgeordnete Jozef Kowalczyk haben sich deshalb an Premier Mazowiecki und Außenminister Skubiszewski gewandt: Die Schiffahrtsrinne soll gemäß internationalem Seerecht zum Binnengewässer erklärt werden, womit erneut Verhandlungen erzwungen werden sollen. In Warschau scheint man von der Aussicht, das brandheiße Thema in Zukunft mit einer gesamtdeutschen Regierung verhandelt zu müssen, nicht allzu begeistert zu sein, wie Mazowiecki Kowalczyk inzwischen sogar persönlich zu verstehen gab.

Nicht nur der Grenzkonflikt, auch die Tatsache, daß Polen Tausenden von DDR-Flüchtlingen über die Oder halfen und sich die DDR dafür mit antipolnischen Schikanen quasi „bedankte“, regt die Anrufer im „Studio Baltyk“ auf. Ähnlich Prof. Winniecki, Kommunist und Vorsitzender der „Oder-Weichsel -Vereinigung“, die im Schlepptau der Partei zur gleichen Zeit wie der Konflikt um die Oderbuch entstanden ist, fühlt sich da gleich an früher erinnert. „Und wenn ich dann solche Aufschriften sehe - 'nur für Deutsche‘ - dann denke ich, es reicht ein Funken, und alles kommt wieder hoch.“

Marian Grzeda, Politwissenschaftler an der Stettiner Universität kommt zum gleichen Schluß: „Diese tiefverwurzelten antideutschen Ressentiments, die kommen jetzt wieder.“ An diesem Abend hält Grzeda einen Vortrag für die neugegründete „Vereinigung Polen - BRD“. Er glaube nicht, daß die wirtschaftlichen Probleme der Wiedervereinigung zu einer Schwächung Deutschlands führen werden. Vor den etwa 30 Zuhörern entwirft er das Bild einer wirtschaftlich allmächtigen Bundesrepublik im Westen und einer zerfallenden Sowjetunion im Osten. Dazwischen ein wirtschaftlich rückständiges, politisch instabiles Polen: „Die Deutschen wissen, daß mit schwachen Nachbarn und in solch unsicheren Zeiten manches durchzusetzen ist, was noch zuvor unmöglich schien.“

Was Grzeda nur andeutet, sprechen andere offen aus. Der 'Zwiazkowiec‘ (Der Gewerkschafter), das Organ der kommunistischen Gewerkschaften OPZZ, behauptet, deutsch -polnische Joint-ventures würden vor allem von ehemaligen deutschen Großgrundbesitzern betrieben, die so ihre alten Besitztümer zurückkaufen wollten. „Demagogie“ nennt das Prof. Winniecki, um so mehr, als solche Erfindungen ihren Zweck erreichen. Auch eine Stettiner Solidarnosc-Zeitung verbreitet - mit Hilfe eines anonymen Autors - solche Geschichten: Mithilfe des Joint-venture-Reiseveranstalters „Pomerania-Tour“ wolle der Sohn eines ehemaligen Stettiner Großgrundbesitzers seinen Besitz zurückkaufen. Die Geschichte stimmt schon deshalb nicht, weil - was wenige Polen wissen - ein Ausländer in Polen ohne Genehmigung des Innenministeriums weder Immobilien noch Grund und Boden erwerben kann.

An Deutsche wurde eine Genehmigung zum Erwerb von Gebäuden in den letzten vier Jahren 16mal vergeben, Grund und Boden hat dagegen in dieser Zeit keiner erworben. Die einzigen beiden Versuche von Westdeutschen, sich ihre frühere Heimat zurückzukaufen, wurden abgewiesen.

Jüngsten Umfragen zufolge sind 65 Prozent der Polen gegen eine deutsche Wiedervereinigung sind. In einer Blitzumfrage der 'Gazeta Wyborcza‘ von letzter Woche drückten fast 50 Prozent der Befragten „Unruhe“ und 22 Prozent „gemischte Gefühle“ angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung aus. Ein Viertel der Befragten riet der Regierung, sich dagegen zu stellen. Wie sehr das Thema seine Hörer aufwühlt, weiß nun auch Zbyszek, das Telefon läutet im „Studio Baltyk“ noch lange nach Ende der Sendung. Die häufig aggressiven, zum Teil unversöhnlichen Anrufe wundern Zbyszek nicht, schon seit einiger Zeit stellt er fest, daß sein fünfjähriger Sohn am liebsten Bilder vom Krieg malt. Die Einfälle dazu bringt er von der Vorschule mit, und die Toten auf seinen Bildern sind immer Deutsche.

Klaus Bachmann, Warschau