Des Kanzlers Faustpfand für die deutsche Einheit

So entnervt brauchte er gar nicht zu sein, der Kanzler würde seine Regierung sich nicht ständig wegen der polnischen Westgrenze selbst ins Gerede bringen. Geradezu lässig könnte sich Helmut Kohl geben - wäre er nicht eben ein Mann der großen historischen Gesten, man erinnert sich an den Händedruck mit Fran?ois Mitterrand über den Gräbern von Verdun oder den unseligen Besuch bei den SS-Gräbern von Bitburg an der Seite Ronald Reagans. Und würde er, statt immer wieder seine symboltriefenden Duftnoten zu hinterlassen, die Oder-Neiße-Grenze anerkennen. Ohne Wenn und Aber.

Noch immer zögert der Bonner Regierungschef, bewegt sich nur ganz langsam in die Richtung, in die den Drei-Zentner -Mann von FDP bis George Bush nun fast alle schieben. Er bleibt oft stehen, geht wieder ein paar Schritte zurück, mal Unentschlossenheit, das nächste Mal Trotz demonstrierend.

Seine jüngste, etwas ausholendere Pirouette in diesem Eiertanz machte gestern Schlagzeilen, als er - ein Schrittchen voran - eine Erklärung der beiden deutsche Parlamente in Aussicht stellte. Zunächst über seinen Kanzleramtschef, dann über einen Regierungssprecher ließ er verbreiten, daß er gegen eine gemeinsame Erklärung von Volkskammer und Bundestag zur Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze nach den DDR-Wahlen nichts mehr einzuwenden habe.

Auf den ersten Blick revidiert der Kanzler damit seine bisherige Haltung: Einen entsprechenden Vorschlag von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hatte er noch Anfang des Jahres abgelehnt. Bei genauerem Hinsehen allerdings bleibt von dem jüngsten Zugeständnis wenig übrig. Kohl hat im Kern lediglich ausrichten lassen, er werde nach dem 18. März eine von der Mehrheit des Bundestages am 8. November letzten Jahres abgegebene Erklärung wiederholen. Darin war die Unverletzlichkeit der polnischen Grenzen bekräftigt worden. Gleich- zeitig hatte man jedoch die Grenzfrage mit dem Verweis auf einen ausstehenden Friedensvertrag zwischen Polen und Deutschland offengehalten.

Und Helmut Kohl mag die jetzt in Aussicht gestellte Erklärung von seinen Sprechern noch so sehr als einen Akt „von ganz hoher“ oder „von überragender Bedeutung“ verkaufen - völkerrechtlich verbindlich ist sie damit nicht. Die Linie des Bundeskanzlers ist die alte geblieben: verbal das eine oder andere Zugeständnis an die Polen machen, gleichzeitig jedoch immer auf die „geltende Rechtslage“ hinweisen und damit das Gesagte wieder entwerten.

In der Tat kann er sich auf die in der Bundesrepublik herrschende Rechtsauffassung berufen. Daß Deutschland rechtlich in den Grenzen von 1937 fortbestehe - diese Fiktion wird auch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestützt. Sein zweites Argument: Der Warschauer Vertrag, in dem die Bundesrepublik und Polen „die Unverletzlichkeit der Grenzen jetzt und in Zukunft“ bekräftigten und erklärten, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche erheben würden.

Der Vertrag wurde später vom Bundestag mit dem Zusatz versehen, er nehme „die friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg“ und schaffe keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen.

Doch sind diese beiden juristischen Säulen des zeitgenössischen Revanchismus auf Sand gebaut. Zwar hatten die Alliierten im Potsdamer Abkommen von 1945 Deutschland in den Grenzen von 1937 als völkerrechtliche Bezugsebene festgelegt. Dies war jedoch nichts weiter als eine erste, provisorische Antwort auf die Frage der im Schloß Cecilienhof Versammelten: Über welches Gebiet reden und verhandeln wir hier überhaupt? Kein Staats- oder Völkerrechtler wagt schließlich zu behaupten, mit dieser Verlegenheitslösung hätten die Allierten damals die Frage offenhalten wollen, zu welchem Staat die ehemaligen deutschen Ostgebiete definitiv gehören.

„Die endgültige Regelung der Oder-Neiße-Frage ist einem Friedensvertrag vorbehalten“ - auch dieses Hauptargument des Bundeskanzlers könnte nach hinten losgehen. Zwar stellen das Potsdamer Abkommen, der Deutschlandvertrag zwischen Westalliierten und der Bundesrepublik und eine Resolution zum Warschauer Vertrag eine solche Friedenskonferenz in Aussicht. Doch längst ist „die Zeit über diese Forderung hinweggegangen“, wie es der Völkerrechtler Christian Tomuschat formuliert. Mit diesem Friedensvertrag, so der Bonner Professor, sollten lediglich alliierte Rechte formell abgelöst werden.

Vor allem aber kann gerade die Bundesregierung an einem solchen Friedensvertrag überhaupt kein Interesse haben: Müßte sie doch damit rechnen, daß sämtliche Kriegsgegner des Deutschen Reiches zusammenkämen und Reparationsforderungen, „möglicherweise sogar in astronomischer Höhe“ (Tomuschat) erheben. Keiner Wunder also, daß niemand, der sich auf den Friedensvertrag beruft, es wagt, dessen mögliche Regelungen auch nur grob zu umreißen.

Nein auch zum Mazowieckiplan

Die Grenzfrage werde definitiv erst von einem frei gewählten, gesamtdeutschen Parlament gelöst werden. So Helmut Kohl am Wochenende in den USA. Vermutlich wird nun dieser Hinweis jenem anderen auf einen ausstehenden Friedensvertrag den Rang als Hauptargument gegen eine endgültige Anerkennung ablaufen.

Ganz sicher aber ist er nicht weniger vorgeschoben: Ginge es der Regierung Kohl tatsächlich um die formelle Gültigkeit einer endgültigen Anerkennung, dann müßte sie dem jüngsten Vorschlag des polnischen Ministerpräsidenten eigentlich zustimmen. Masowieckis Plan: Es sollten die Bundesrepublik, die DDR und Polen schon bald einen Vertrag ausarbeiten und paraphieren, das heißt mit Initialien abzeichnen, der dann später von einer gesamtdeutschen Regierung unterzeichnet und von einem Parlament Gesamtdeutschlands ratifiziert werden solle.

Die Kohlsche Ablehnung kam postwendend und besteht fort obwohl, so ist zu hören, der Masowickiplan im Kanzleramt durchaus auf Wohlwollen gestoßen ist. „Sehr interessant“, so wird berichtet, habe Kohl ihn gefunden, offenkundig bewege sich Polen auf die Bundesrepublik zu. Unterstützen allerdings werde er ihn nicht: „Warum auch?“, soll ein Vertrauter des Kanzlers die Haltung seines Herrn umrissen haben.

Helmut Kohl verhindert die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze - und warum auch nicht? Die Ängste der Polen beeindrucken ihn nicht. Außer dem freundlichem Tadel der befreundeten Westmächte, außer dem verhaltenen Maulen des Koalitionspartners FDP muß er dabei nichts fürchten. Und für ihn vorteilhaft ist diese Haltung allemal. Die Vertriebenen lohnen sie ihm mit Wählerstimmen, ihre Verbände und Politiker bleiben eine zuverlässige Stütze der Kohlschen Politik.

Pokern für die Wiedervereinigung

Und was noch wichtiger ist: Einen endgültigen, rechtsverbindlichen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete hinauszuschieben, das drückt den Preis für die Deutsche Einheit und erhöht das Tempo auf dem Weg dorthin. Die Wiedervereinigung, so schnell, so einfach, so ungestört wie möglich, ist umso greifbarer, je geneigter ihr das Ausland ist. Muß dieses befürchten, eine endgültige Anerkennung der Grenzen werde es ohne die Einheit nicht geben, wird sie sich ihr nicht in den Weg stellen jedenfalls so lange nicht, wie der rechtsverbindliche Verzicht nur eine wertvolle Karte im Poker des Bundeskanzlers um einen Anschluß der DDR ist.

Ferdos Forudastan