Neues Forum, alte Hoffnung

■ Rostocker Herbstrevolutionäre: Erfolgreich gegen die alte, hilflos gegenüber der neuen Macht

„Neue Hoffnung“ verheißen die Plakate der Neuen Forums in Rostock, die der SPD bieten mehr: „Eine neue Politik. Eine neue Wirtschaft. Eine neue Moral.“ Die Plakate der „Neuen Hoffnung“ sind oft in der Mitte durchgerissen, das Dreierpack der SPD ist unversehrt. In drei Wochen ist die erste Wahl in Rostock seit 1932, bei der eine Wahl besteht. Wahlplakate wurden seit Jahrzehnten nicht gesehen.

Vor dem Haus der Demokratie, unter dessen Dach neben Demokratischem Aufbruch, Vereinigter Linker, Grüner Partei und anderen auch das Neue Forum arbeitet, treffe ich den Bärtigen wieder. Als ich ihn Anfang Januar kennenlernte, war er im Sprecherrat des Forums. Jetzt ist er bei der SPD und etwas verlegen. Das Forum hat sich in der Verantwortung, die ihm gestellt war, nicht bewährt, das muß man sehen, sagt er. Beim Forum vertrete ja nur der Gauck eine vernünftige Politik. Das Sträuben der anderen gegen Parteistrukturen sei doch schon durch das Hick-Hack der Grünen in der BRD wiederlegt.

Drinnen, unter dem Dach, sitzt eine Handvoll Forumsaktivistinnen, darunter der spiritus rector, Jochen Gauck, Pastor, Volkskammerwahlkandidat. Es ist Samstag, es wird gearbeitet, wie seit Monaten. Frau Biedenkopf vom ZDF dreht einen Beitrag, eigentlich über Gauck, der hätte das gern bißchen demokratisch, zusammen mit den „tolle Leuten“, mit denen er arbeitet. Frau Biedenkopfs Kollege haut der Runde die Kritik um die Ohren, die er am Vortag bei der Wahlversammlung in Schwerin von der Basis

gehört hat: Welche Antworten hat das Forum zu Währungsunion, zu den durch die Einheit bedrohten sozialen Sicherungen, zu LPG-Ländereien und Häusern, die in den Westen gegangene BesitzerInnen wieder haben wollen. Die SpezialistInnen geben vorläufige Antworten. Die klingen vage oder kompliziert. Der Interviewer wird zum Oberlehrer. Ist ihm alles zu vage, wiederholt er bei laufender Kamera. Was er sich bei einer richtigen Altpartei im Westen nie angemaßt hätte, bei denen im Osten ist alles erlaubt.

Im Januar ging es noch um Stasiauflösung, SED-Comeback, Parteivermögen, Medienzugang für die demokratischen Gruppen. Im Februar wollen alle genau wissen, wie ihr Geld, das Land, die Horte und Krippen im Einheitsfalle gesichert werden sollen. An der Konkretisierung unserer Antworten arbeiten wir, sagt Jochen Gauck, in unsere Fachgruppen, in den Räten, demokratisch. Demokratisierung von unten auch beim Positionsfinden sei und bleibe ihnen wichtig.

Und: Auch die anderen Parteien, auch die SPD, seien hier nicht weiter. Das mag stimmen. Aber die Befragungen sagen bis zu 50 Prozent Wahlstimmen für die SPD voraus, bis zu 3 Prozent für das Neue Forum, bzw. das Wahlbündnis des Forum mit Demokratie jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte.

Da zählt nicht so sehr das Programm, sondern die vertraueneinflößenden alten Männer aus dem Westen, Willy Brandt und Helmut Schmidt, hochangesehen in der DDR, die werden es schon richten. Im November war es

noch Jochen Gauck, der Willy Brandt in die Marienkirche nach Rostock holte. Wenn jetzt Helmut Schmidt kommt, kommt er zur SPD.

Die SPD ist in Rostock aus dem Neuen Forum hervorgegangen. Ihr Vorsitzender Ingo Richter kommt daher, genau wie der Pressesprecher Horst Denkmann, der noch im Dezember im Sprecherrat des Forums war. Das Rostocker Neue Forum ist eine der stärksten Bastionen des Forums überhaupt. Das liegt daran, daß hier, mit und um Pastor Gauck, sich seit zehn Jahren ein kirchlicher Widerstand gebildet hat, dessen TrägerInnen dann zu den Aktiven des Neuen Forum wurden. Aber urplötzlich ist es so, daß man mit der SPD, materiell und ideell im Schoß der Bundes-SPD geborgen, wahlsiegen wird. Die aber, die den Herbst 1989, von den Donnerstagsdemonstrationen bis zur Besetzung des Stasi -Gebäudes „gemacht“ haben, rackern sich dafür ab, als Splittergrüppler aus der Wahl hervorzugehen.

Das ist alles sehr plötzlich gegangen. Es war noch nicht abzusehen am 6. Januar, als Jochen Gauck zur Einweihung des SPD-Hauses in der Thomas-Mann-Straße gratulierte und Ingo Richter sich respektvoll bedankte bei dem Pastor, dessen öffentliche Arbeit für ein Widerstehen so viel eher angefangen habe als die eigene.

Die Rostocker SPD hat inzwischen nicht nur ein Haus für sich, mit Büromaschinen und Kopierer von der Bremer SPD, sie kann auch Mitarbeiter bezahlen. In der Rostocker SPD erzählt man sich,

die Bremer SPD unterstütze die Rostocker mit einer Million D -Mark. Die Partei hat mit der wiedergegründeten „Mecklenburgischen Volkszeitung“ ein Presseorgan zur Verfügung. Darin bringen auch Grüne und Neues Forum Artikel unter, aber gefeatured wird die SPD.

Es ist aber nicht nur die SPD. Das Rostocker Forum bezahlt auch die Quittung mit den Volkszorn für die Artikulation der „intellektuellen Bauchschmerzen“ Bärbel Bohleys und des Berliner Forums gegen die Einheit. Da hat es wenig geholfen, daß Jochen Gauck von der Öffnung der Mauer an die Sehnsüchte der DDR-Mehrheit nach Einheit positiv interpretiert und die Ausverkaufsängste auf den Teppich geholt hatte mit der Frage, was denn da auszuverkaufen sei. Er hatte mitgekriegt, als welchen Hohn gerade die unteren Schichten eine neuerliche Sozialismus-Diskussion empfinden und die Notwendigkeit marktwirtschaftlichen Reorganisation vertreten. Gegen alle ungefragten Usurpationen der DDR -Bevölkerung hatte er sich allerdings ebenso klar gewandt, wie zuletzt gegen die demütigende Behandlung der Modrow -Regierung des Rundes Tisches durch den Siegeselefanten in Bonn.

Im Moment ist mit alldem, wie der Mecklenburger Gauck gern sagt, „kein Blumenpott zu gewinnen“. Von den Sozialismussehnsüchten seiner Wortführer vom Herbst enttäuscht, wendet sich „das Volk“ den starken Politapparaten aus dem Goldenen Westen zu und/oder ist ratlos.

Uta Stolle