Geist und Maschine

■ Brain-Tech, „mind machines“ und die Elektrifizierung des Geistes - das Zeitalter der Gehirnstimulation ist angebrochen Neueste Erkenntnisse der Gehirnforschung lassen auf ungeahnte Möglichkeiten des menschlichen Zentralorgans schließen

Mathias Bröckers

Wenn das menschliche Gehirn so simpel wäre, daß wir es verstehen könnten, wären wir so simpel, daß wir es nicht könnten.(Emerson Pugh)

Die Griechen, vor 2.500 Jahren, hatten noch gar keinen Namen dafür, „Enkephalos“ - „das, was im Kopfe ist“ - nannten sie die puddingartige rosa Masse unter der Schädeldecke, die heute von der Wissenschaft längst als Zentralorgan des menschlichen Körpers identifiziert worden ist. Während die antiken Mediziner das Denken und Fühlen im Zwerchfell oder im Herzen ansiedelten, wissen die Neurophysiologen unserer Tage nicht nur, daß neben dem Denken und Fühlen auch sämtliche anderen körperlichen Prozesse vom Gehirn gesteuert werden. Sie kennen auch schon einige Eigenschaften dieses Biocomputers, dessen 100 Milliarden Nervenzellen sich durch biochemische Botenstoffe, die sogenannten Neurotransmitter, zu einem gigantischen Netzwerk verbinden. Hirnforscher haben ausgerechnet, daß die Zahl der möglichen neuronalen Verbindungen die Summe der Atome des gesamten Universums übersteigt.

Bei dieser Kapazität wundert es nicht, daß die detaillierten Programmabläufe dieses organischen Superrechners den Physiologen noch immer ein großes Rätsel sind - auch wenn die Hirnforschung in jüngster Zeit einige aufregende Entdeckungen gemacht haben.

So hat man festgestellt, daß die physikalische Größe des Gehirns nicht ein für allemal festgelegt ist, genausowenig wie mit dem Erreichen der Reife ein unaufhaltsamer Verlust von Gehirnzellen eintritt. Eine Reihe von Untersuchungen hat ergeben, daß bestimmte von außen kommende Reize einen Zuwachs der Nervenzellen bewirken können: das menschliche Hirn ist nicht zwangsläufig zum Neuronenschwund verurteilt, sondern abgestorbene Zellen können durch entsprechende Stimulation ersetzt werden.

Weiterhin brachte die genauere Erforschung der arbeitsteiligen Aktivität der beiden Gehirnhälften ans Licht, daß der Mensch normalerweise nur unter der Dominanz einer der beiden Gehirnhälften denkt, in außerordentlichen Geisteszuständen aber, zum Beispiel während der Meditation oder intensiven kreativen Phasen, beide Hemisphären in denselben Rhythmus übergehen und synchron, als Einheit, arbeiten.

Zu den aufsehenerregendsten Entdeckungen gehört vielleicht, daß die Aktivität des Gehirns nicht, wie lange Zeit angenommen, außerhalb der bewußten Kontrolle liegt, sondern im Unterschied zu großen Teilen des sonstigen menschlichen Nervensystems, kontrollierbar ist. Das Gehirn ist ein selbstregulierendes System, das heißt, das Bewußtsein kann lernen, sich auf sich selbst zu richten und zu beeinflussen. Die schon in den sechziger Jahren entwickelten Methoden des Biofeedback wurden durch den schnellen technologischen Fortschritt intensiviert und verfeinert: mit den mittlerweile äußerst sensiblen Biofeedback-Apparaten, die die elektrische Aktivität des Gehirns registrieren und bildlich darstellen, ist es möglich, geistige Zustände zu beobachten, sie sich bewußt zu machen und zu lernen, sie zu verändern.

Jeder vorstellbare geistige Zustand ist das Ergebnis elektrischer und chemischer Vorgänge, einer bestimmten Konstellation neuronaler Botenstoffe und elektrischer Schwingungen der Gehirnwellen. Den Umstand, daß der Biocomputer Gehirn (und damit der gesamte Körper) durch Zuführung chemischer Stoffe verändert werden kann, macht sich der älteste Zweig der Heilkunst, die Pharmazie, zu Nutze - zu den jüngsten Errungenschaften der Medizin gehört dagegen, daß auch elektrische, magnetische, optische und akustische Reize die Aktivität des Gehirns auf äußerst effektive Weise beeinflussen können. Es denke hier niemand an die bis vor wenigen Jahren noch gebräuchliche Elektroschock-behandlung - eines der brutalsten Kapitel der Medizingeschichte, das viele Menschen das Leben oder den Verstand gekostet hat -, worum es geht, ist eher das Gegenteil eines Schocks: eine sanfte, gewaltlose Massage, die das menschliche Zentralorgan erfrischt und belebt.

Unter dem Titel Megabrain brachte der Schriftsteller und Wissenschaftsautor Michael Hutchinson 1986 in einem New Yorker Verlag das erste umfassende Buch über die Möglichkeiten externer Gehirn-Stimulation heraus - in dem seit kurzem auch in deutscher Sprache erhältlichen Band (Sphinx-Verlag, Basel) hat Hutchinson die jüngsten Ergebnisse der Gehirnforschung recherchiert und eine Vielzahl von Techniken und Geräten untersucht, mit denen das Gehirn stimuliert und verändert werden kann. „Mega“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet groß, mächtig, umfassend, unter Megabrain haben wir uns also ein Über-Hirn vorzustellen, doch ist dieses Mega-Gehirn, wie Hutchinson klar macht, durchaus nichts Futuristisches, Unheimliches oder Abnormes, es ist unser ganz normales alltägliches Gehirn, wenn es mit großer Intensität arbeitet. Daß unser Alltagsgehirn mit derart großer Wirksamkeit arbeiten kann, daß es viel komplexer und wirksamer funktionieren kann als gemeinhin angenommen und daß der Grad dieses Potentials durch äußere Bedingungen beeinflußbar ist - darüber besteht unter den Neurowissenschaftlern kein Zweifel.

Hutchinson hat ihre Untersuchungen und Forschungsergebnisse studiert und kommt zu dem Schluß, daß sie eine völlig neue Dimension der Intelligenz eröffnen: der Kortex, das wie eine Kappe über dem Gehirn liegende Knäuel der „grauen Zellen“, kann wachsen, die Zahl der Synapsen - der Kontaktstellen zwischen den einzelnen Neuronen kann zunehmen und ihre Struktur sich optimieren. Diese Veränderungen geschehen nicht in langwierigen Prozessen, sondern als unmittelbare Reaktion auf äußere Eindrücke. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Aktivitäten des Gehirns umstrukturieren, auf eine höhere, intensivere Ebene springen, hat jeder von uns auch schon im Alltag beobachtet: Man geht aus dem Haus und hat kurz darauf das Gefühl, etwas vergessen zu haben: den Hausschlüssel, die Kochplatte, den Wasserhahn? Plötzlich findet man die Antwort: es ist der Brief, der noch zur Post sollte - diese Erfahrungen nennen wir Aha-Erlebnis oder Geistesblitz, schon der Name deutet an, was uns auch unser Gefühl bei diesen Erlebnissen sagt: daß unser Geist sich plötzlich neu strukturiert hat. In diesen Momenten verändern sich die Schwingungen der elektrischen Wellen im Gehirn, neue Muster der Informationsübertragung bilden sich und damit neue Geisteszustände.

Um zu erklären, wie diese blitzschnellen Sprünge von chaotischer Grübelei zu geordneter Klarheit vor sich gehen, haben die Neurowissenschaftler auf die Arbeit des Chemikers Ilja Prigogine und seine Theorie der „dissipativen Strukturen“ zurückgegriffen. Diese besagt, daß offene Systeme, in denen ständiger Austausch von Materie und Energie herrscht und die sich fern vom Gleichgewichtszustand befinden, die Eigenschaft haben, aus diesem instabilen Durcheinander in eine neue Ordnung zu springen. Auch unser Gehirn ist eine solche dissipative Struktur, seine Aktivitäten verlaufen nicht linear, sondern sprunghaft, ein winziger Impuls reicht, um das gesamte System ins Chaos zu stürzen oder eine komplexere, höhere Ordnung zu etablieren. Wissenschaftler haben untersucht, was bei den erwähnten Aha -Erlebnissen im Gehirn vor sich geht: jedem erlösenden „Ich hab's!“ ging eine Dominanz von Alpha-Wellen (eine Frequenz von etwa zehn Hertz) voraus, eine Schwingung, die zuvor, in der Grübelphase, blockiert war. Auch andere Geisteszustände hat man mittlerweile mit bestimmten Frequenzen in Verbindung gebracht: So löst eine dominierende Beta-Frequenz (30 Hertz) Euphorie aus, Alpha-Wellen sorgen für entspannte Wachsamkeit und Theta-Wellen (zwischen vier und acht Herz) dominieren den Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Darüber hinaus stellte man fest, daß das Gehirn die Eigenart hat, auf eine von außen verstärkte Frequenz nach kurzer Zeit einzuschwingen.

Diesen Umstand machen sich die „brain machines“ zu Nutze, die Michael Hutchinson im zweiten Teil seines Buchs untersucht. Die mittlerweile auch in Europa in den verschiedensten Varianten erhältlichen Geräte stimulieren die Gehirnwellen mit feinelektrischen, akustischen und optischen Reizen und ermöglichen es, mit einer kleinen Drehung am Schaltknopf Dominanzen einer gewünschten Hirn -Frequenz zu erzeugen. In Amerika hat der Effekt dieser Geräte als „Instant Meditation“ Furore gemacht - wie früher unter die Sonnenbank legen sich streßgeplagte Manager oder erleuchtungsbedürftige New-Age-Leute heute ein Viertelstündchen aufs Sofa, um angeschlossen an die „mind machine“ ihren „grauen Zellen“ eine Fitness- und Entspannungskur zu genehmigen. Und nicht nur das: Da man festgestellt hat, daß etwa bei verstärkten Theta-Wellen die Aufnahmekapazität des Gehirns steigt, nutzten zum Beispiel Sprachkurse die Theta-Stimulation - und lernten nicht nur mehr als doppelt so viele Vokabeln pro Tag, sondern behielten sie auch viel länger im Gedächtnis als andere Sprachschüler. Daß der von Theta-Wellen angeregte Ausstoß von Endorphinen im Gehirn sich tatsächlich auf die Gedächtnisleistungen auswirken könnte, belegt eine Alltagserfahrung, die viele schon gemacht haben: kurz vor dem Einschlafen hat man die besten Einfälle, Bilder, Erinnerungen steigen auf, doch unglücklicherweise sorgen diese starken Theta-Wellen in den meisten Fällen dafür, daß wir einschlafen...

Funktioniert unser Gehirn tatsächlich wie ein Radioempfänger, bei dem man nur die Frequenz ein wenig ändert, und schon läuft ein anderes Programm? Die „Geistesmaschinen“ machen in der Tat nichts anderes, als die Frequenzen der Gehirnwellen zu manipulieren, durch rhythmische Licht- und Toneffekte und durch elektrische Schwingungen - doch sie geben damit nur den Anstoß für den eigentlichen Effekt: Sie setzen Endorphine frei. Ein Neuro -Peptid, das mehr ist als nur ein Botenstoff, der Kontakt und Kommunikation zwischen den grauen Zellen stiftet, Endorphine stellen so etwas wie das körpereigene Belohnungssystem dar. Die nobelpreisgkürte Entdeckung der Endorphine in den 70er Jahren erregte Aufsehen, weil mit ihnen der opiatähnliche Stoff gefunden war, mit dem das Gehirn Schmerzen lindert - mittlerweile weiß man, daß Endorphine auch einen großen Verstärkungseffekt für die Lern - und Gedächtnisfunktion haben, und daß jedes behagliche Lustgefühl von einem Endorphinausstoß ausgelöst wird, auch die kleine „Erlösung“, die wir empfinden, wenn uns in der Kette „Kochplatte, Wasserhahn, Bügeleisen...???“ endlich das richtige eingefallen ist. Endorphine, so die Neurologin Candace Pert, sind ein „evolutionärer Filtermechanismus“ im Gehirn, sie filtern die Informationen heraus, die nicht wesentlich oder hilfreich für unser Überleben sind, und verstärken durch lustvolle Gefühle diejenigen Gedanken und Aktivitäten, die gut für unser Überleben als Gattung sind. Für Hutchinson ergibt dies eine einfache Gleichung: „Endorphine belohnen Verhalten, das zu unserem Überleben als Gattung beiträgt. Überleben erfordert heute zunehmende Intelligenz. Deshalb werden Lernen und Intelligenzwachstum belohnt.“

Daß die Stimulation durch die brain machines die Produktion von Endorphinen und anderen Neurotransmittern anregt, steht außer Frage, weitgehend unerforscht ist aber noch, welches Potential zur gezielten Förderung geistiger Prozesse die „Elektrifizierung“ des Gehirns bietet. Die ersten Ergebnisse der noch in der Kinderschuhen steckenden Erforschung deuten auf geradezu revolutionäre Möglichkeiten - im medizinischen Bereich, im Gedächtnis- und Lerntraining sowie für die alltägliche Entspannung - Möglichkeiten, die für das Denkorgan der Menschen von entscheidender Bedeutung sein können, und damit für die gesamte Welt, deren voranschreitende Zerstörung ja ganz offenbar nur auf einem beruht: der mangelnden Intelligenz des homo sapiens. Daß sich mit diesen Geräten „die Intelligenz steigern läßt“, wie einige Hersteller vollmundig tönen, ist so pauschal mit Sicherheit übertrieben - Intelligenz ist ein äußerst komplexes Verhalten, dessen Qualität sich nicht auf einer simplen Skala anzeigen läßt. Dennoch leisten die neuen Gehirnmaschinen etwas ganz Außerordentliches: sie ermöglichen es, die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu beobachten und zu lernen - und nichts scheint derzeit dringender geboten. Denn eine Bedienungsanleitung für den formidablen Biocomputer Hirn hat der Schöpfer dummerweise nicht beigelegt...

Wie bei jeder neuen Technologie ist auch bei dieser Vorsicht angebracht - nicht wenigen verursacht die Vorstellung einer Veränderung und Manipulation des Gehirns eine Gänsehaut. Doch ist derlei Angst ein ebenso schlechter Ratgeber wie das unreflektierte Abfahren diverser Zeitgeistlicher auf den Modetrend der High-Tech-Meditation auch wenn deren Euphorie so verständlich ist wie die fundamentale Phobie vor der „kalten“ Maschine. Denn einerseits eröffnen die in einigen Teilbereichen gewonnenen wissenschaftlich „harten Fakten“ über die Effekte der Gehirnstimulation großartige Perspektiven - neben den schon erwähnten Entspannungs- und Gedächtnisleistungen zum Beispiel in der Drogenentwöhnung (Meg Patterson: Der sanfte Entzug, Verlag Klett-Cotta 1989) und bei der Aktivierung von Selbstheilungskräften - andererseits handelt es sich bei den brain machines tatsächlich um kalte Apparate, die unser Gehirn manipulieren. Allerdings - und das ist der entscheidende Unterschied zur Bewußtseinsbeeinflussung im Orwellschen Sinne, etwa der tagtäglichen Suggestion durch die Medien - ist die Manipulation der brain machines bewußt und gerichtet. Und sie wird nicht von einer anonymen Instanz gesteuert, sondern vom Individuum selbst.