: Über 750.000 Wohnungssuchende in der DDR
■ Zukunft des Boden- und Mietrechts noch völlig ungeklärt / Parteien drücken sich noch vor der Frage, ob am Wohnen verdient werden darf oder nicht / DDR-Bürger zahlen heute nur zehn Prozent des Einkommens für Mieten / Dubiose Grundstückskäufe von Baulöwen und Großbanken
„Man kann nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und die andere Hälfte Eier legen lassen, auch wenn manche Leute in der DDR glauben, das geht“, meint Dieter Blümmel, Sprecher der Berliner Haus- und Grundbesitzer, zu den Ausverkaufsängsten der Mieter der DDR. Sprich: Wer die Marktwirtschaft will, darf sich nicht beschweren, wenn sie kommt. Die DDR ist für die Bauwirtschaft, und da fragt sich so mancher hüben und drüben, was aus dem Musterland des Mieterschutzes wohl wird. Ein detailliertes Konzept für den möglichen Übergang ins BRD-Mietrecht hat noch niemand vorgelegt. Und bei den Bewohnern drüben steht der Ärger über kaputte Dächer und Fenster und rußende Öfen im Vordergrund.
Dreifache Mieten
Furcht geht bislang nur um vor einer hereinbrechenden, hoffentlich vorübergehenden Welle von Westlern, die ihr Eigentum zurückverlangen. Mieter, die in ihre Wohnung investiert haben, sollen mit in das Grundbuch eingetragen werden, beschloß deshalb der Runde Tisch. Die Zeichen stehen überall auf Privatisierung, um zu retten, was zu retten ist. Der Durchschnitts-DDRler will seine Wohnung besitzen, und zwar will er sie ganz, und er will sie sofort. Linkere Vögel diskutieren Genossenschaftsmodelle für innerstädtische Mietshäuser, um den Schein des Gemeineigentums zu wahren. Selbst die Hausbesetzer am Prenzlauer Berg entpuppten sich als eifrige Häuslebauer, deren vornehmliche Sorge ist: „Wo kriegen wir billiges Baumaterial her?“ Dabei stellen sich die Reformer auch schon mal selbst ein Bein: So erarbeiteten die Potsdamer Grünen einen Gesetzesvorschlag, alle Häuser in Staatsbesitz den Bewohnern preiswert zu übereignen. Aber noch bevor es in Kraft gesetzt wurde, dämmerte ihnen, daß so manch geschäftstüchtiger Potsdamer das frisch erworbene Anwesen an westliche Interessenten weiterverkaufen könnte, sobald die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sein werden. Jetzt diskutiert man in Potsdam über Treuhand- und Erbpachtmodelle.
Die weitergehende Bedrohung, daß nach der Einführung der Marktwirtschaft Wohnen Ware sein wird, daß sich grundlegend und für immer etwas ändert, ist kaum jemandem klar. „Bei uns kann man sich das gar nicht vorstellen, was bei euch passiert, mit Kündigungen zum Beispiel“, sagte Brundhild Becker, die Sprecherin des DDR-Mieterbundes in Gründung. Sie bekomme zwar viele Briefe von besorgten DDR-Bürgern. „Aber die Leute hier glauben nicht, daß es im Westen sowas wie Wohnungsnot gibt, die halten das für Propaganda. Dafür hat hier keener 'n Docht“, fügt sie hinzu. Ihr selbst sei es erst klar geworden in Diskussionen mit ausländischen - also bundesdeutschen - Journalisten, was Wohnen in der Marktwirtschaft für Probleme verursachen könne. „Und es ist auch unpopulär, das hier zu erzählen. Denn die SED-PDS hat jahrelang gepredigt, wie schlimm das im Westen ist, und die SED, das war die Partei, die einen immer gedemütigt hat, da traut man sich gar nicht, das gleiche zu sagen.“
Dabei muß man sich nur die Fakten ansehen, um zu erahnen, was in den nächsten Jahren drüben passieren wird: Mehr als ein Drittel der Wohnungen in der DDR wurde vor 1918 errichtet. Der durchschnittliche DDR-Bürger hat 27 Quadratmeter Wohnfläche, der Bundesbürger 36 Quadratmeter. Es gibt 750.000 registrierte Wohnungssuchende, wobei man berücksichtigen muß, daß alleinstehende Personen unter 26 Jahren gar nicht erst in die staatlichen Listen aufgenommen werden. Nur 40 Prozent der Wohnungen drüben haben Zentralheizung, im Westen ist der Anteil doppelt so hoch. Und allein die Kosten für die unterlassene Instandhaltung gehen in die Milliarden. Zum Vergleich: Allein in die Stadterneuerung in West-Berlin flossen im letzten Jahrzehnt gut fünf Milliarden DM. Der Nachholbedarf an Investitionen ist also ungeheuer. Aber bereits jetzt legt der Staat auf die Altbaumieten von etwa 80 Pfennig pro Quadratmeter nochmal die doppelte Summe drauf, die Mieten sind vom Staat auf dem Niveau von 1944 festgefroren.
Eine Neubauwohnung kostet den Staat gar bis zu 200.000 Mark, das ist westliches Niveau, während die Mieten etwas über einer Mark pro Quadratmeter pendeln. Das heißt, im Neubau dürften die staatlichen Subventionen den 100 Prozent nahekommen. Schätzungen von Fachleuten aus der DDR, wonach sich die Mieten mindestens verdreifachen werden, bevor auch nur eine Mark investiert wurde, scheinen eher untertrieben.
Wer soll zahlen?
Nach jetzigem DDR-Recht ist der Grundstücksmarkt der Spekulation entzogen. Westler dürfen gar kein Grundeigentum drüben erwerben. Zwar kaufen sich zunehmend vor allem Westberliner via Strohmann auf dem Datschenmarkt ein, dies ist aber illegal und auch nicht empfehlenswert. Ostler dürfen nur Grundstücke von Privat kaufen, dies zu staatlich festgelegten Preisen, die freilich inzwischen durch Schmiergeld- und Abstandszahlungen unterfüttert werden. Ein Westler, der ein Grundstück aus Vorkriegsjahren besitzt, darf dies nur eingeschränkt nutzen. So muß er einen ortsansässigen Verwalter bestellen. Und der braucht für jeden Mietvertrag auch noch die Zustimmung der staatlichen Wohnungsbehörde, der allmächtigen KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung), die in etwa dem hiesigen Schweinesystem entspricht.
Aber das System hat innerlich bereits jetzt Risse. Mehrere westliche Baulöwen und Großbanken haben begonnen, sich in die Filetgrundstücke östlicher Metropolen einzukaufen, obwohl das rechtlich eigentlich nicht möglich ist. Aber in der dortigen Verwaltung geht offenbar derzeit alles drunter und drüber, Millionenprojekte werden von untergeordneten Chargen vergeben. Und wie sich die östlichen Hausbesitzer entwickeln werden, die erst kürzlich einen eigenen Verband gründeten, kann niemand abschätzen. Bis jetzt wurden zumindest ostdeutsche Genossenschaftler, die ihr eigenes Haus erwerben wollten, von der KWV abgewiesen, mit der Begründung, man veräußere doch kein Staatseigentum an Privat.
Zumindest das wird sich binnen Wochenfrist gründlich ändern. So stellte die Leonberger Bausparkasse vor zwei Tagen die Ergebnisse ihrer monatelangen Verhandlungen mit der Zentralen Landesbank der DDR vor. Die Leonberger will demnächst entweder eine Tochtergesellschaft in der DDR gründen oder vor Ort eigene Filialen aufmachen. Dann können die dortigen Bürger ihr Geld mittels eines Bausparvertrages festlegen. Damit würden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die DDR-Bürger hätten in ein paar Jahren genug Geld, ihren Altbau zu modernisieren oder ihre Neubauwohnung anzukaufen. Gleichzeitig wären die Spargelder de facto eingefroren, das mache die Umstellung auf Westmark im Kurs 1 : 1 einfacher, „als wenn alles sofort für Stereoanlagen ausgegeben wird“, meint der Berliner Bezirksdirektor der Leonberger, Fähndrich.
170 Milliarden Mark haben die DDR-Bewohner auf Sparkonten. „Wenn die 1 : 1 getauscht wird, wie es zu erwarten ist, dann muß Kaufkraft abgeschöpft werden“, meint Blümmel. Auch er hält es für sinnvoll, daß die DDR-Bewohner möglichst rasch ihre Wohnungen kaufen, „schon um sie für 40 Jahre Sozialismus zu entschädigen“. Die Mieten würden natürlich steigen, aber solche „Horrorgeschichten“ wie vierzehn Mark pro Quadratmeter - eine Zahl, die neulich durch die Presse ging - seien unrealistisch. Derzeit zahlten DDR-Bürger zehn Prozent ihres Einkommens für die Miete, die Bundesbürger siebzehn Prozent. Das werde wohl in den nächsten Jahren stufenweise und proportional zum Wohnstandard angehoben werden. Bis zum Jahr 2000 könnten die ehemals beiden Deutschlands sich angeglichen haben, meint Blümmel. Aber um das Wohnen im Osten auf Weststandard zu heben, müsse sich natürlich der Grundstücksmarkt für westliche Investoren öffnen. Befürchtungen vor negativen Begleiterscheinungen hat Blümmel - verständlicherweise - nicht. „Die drüben wissen besser als die Leute hier, daß Wohnen Geld kostet“, meint er.
Die Parteien der DDR drückten sich bisher um die Gretchenfrage, nämlich ob am Wohnen künftig verdient werden darf oder nicht, und wenn nein, wer das alles bezahlen soll, was die DDRler sich wünschen. Die Regierung Modrow verkündete am Donnerstag Allgemeinplätze: Die Altbaumodernisierung müsse kostendeckend und mietflexibel geschehen, staatlicher Grund und Boden bleiben unveräußerlich und seien nur treuhänderisch weiterzugeben. Weder sie noch eine der zahlreichen Oppositionsgruppen haben ein darüber hinausgehendes konkretes Konzept für die Zukunft, und schon gar keine Finanzplanung.
Dabei hoffen westliche Fachleute auch auf die Hilfe der DDR. Denn daß es drüben - noch - günstiger für den Mieter aussieht, davon können auch Mieter aus dem Westen profitieren. Der DDRler hat absoluten Kündigungsschutz sowie einen Kostenerstattungsanspruch, wenn er die Wohnung modernisiert, auch wenn er dies ohne Zustimmung des Vermieters tut. Hier hingegen ist der Schutz vor Kündigungen nach dem berüchtigten Eigenbedarfsurteil des Bundesverfassungsgerichts ein eher trauriges Kapitel. Auch gibt es in der DDR mehr Möglichkeiten zum Einspruch bei unerwünschter Modernisierung. „Selbst die konservativen Kräfte in der DDR werden nicht das jetzt existierende BRD -Mietrecht übernehmen wollen“, meint Reiner Wild, Co -Geschäftsführer des Berliner Mietervereins. Im Falle einer Wiedervereinigung könne doch die von Wohnungsnot gebeutelte BRD einiges aus dem Mietrechtsfundus der DDR übernehmen, meint Reiner Wild, statt den Brüdern und Schwestern das eigene, oft mieterunfreundliche BRD-Recht aufzudrücken.
Eva Schweitzer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen