: Das System ist nicht mehr dicht
Die Revolution hat die Kernenergie erreicht ■ G A S T K O M M E N T A R
Schon die bisher zugänglichen, lückenhaften Informationen belegen ein - im internationalen Vergleich - außergewöhnlich hohes Risiko katastrophalen Versagens der vier Reaktorblöcke, die bisher im Kernkraftwerk Greifswald Strom erzeugten. Zwei dieser vier Blöcke wurden jetzt abgeschaltet, aufgrund einer Empfehlung der Kölner „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ vom 15.Februar. Anlaß dafür waren Strahlenschäden des Werkstoffs der Reaktordruckbehälter, die zu katastrophalem Versagen führen können. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Sicherheitsmängeln ähnlicher Brisanz, die alle vier Blöcke betreffen. Jeder einzelne von ihnen müßte zur Stillegung führen, wenn diejenigen Sicherheitsmaßstäbe angelegt würden, die international - keineswegs nur in der Bundesrepublik auch für ältere Anlagen gelten.
Diese Mängel beruhen sowohl auf der grundlegenden Konzeption als auch aus der bisherigen Betriebsführung. Wir haben die wichtigsten von ihnen in einer Pressekonfernz in Ost-Berlin am 1.März benannt und erklärt, daß angesichts dieser Massierung von Risiken der Betrieb des Kernkraftwerks Greifswald, das rund zehn Prozent der Stromerzeugung der DDR deckt, nicht länger zu verantworten ist.
Selbstredend waren die Sicherheitsprobleme den Verantwortlichen in der DDR-Kraftwerksleitung, Behörden und Spitzenpolitikern - im wesentlichen bekannt. Es liefen Untersuchungen über Möglichkeiten, das Sicherheitsniveau durch Nachrüstungen zu verbessern. Aber selbst relativ simple, billige Maßnahmen - auch zur Aufklärung von Risikopotentialen - wurden nicht oder allenfalls zögernd durchgeführt. Stromproduktion war das höchste Gebot.
Die Öffentlichkeit erfuhr nichts. Ein ausgeklügeltes System von Geheimhaltung und Repression sorgte für Abschottung selbst innerhalb des Kraftwerks und der Aufsichtsbehörde. Nun müssen sich die Verantwortlichen an die ungewohnte Öffentlichkeit gewöhnen. Erstmalig gab es in der vergangenen Woche im DDR-Fernsehen ein Streitgespräch zur Kernenergie. Zwar bleibt die Kernkraftwerksdokumentation auch weiterhin „vertraulich“, aber das System ist nicht mehr dicht.
Mit dem als vorläufig deklarierten Abschalten von zwei der vier Greifswalder Reaktoren begann wohl der Rückzug. Um die beiden anderen Blöcke dürfte es Gerangel geben, schon angesichts von zehn baugleichen Reaktoren in der Sowjetunion, Bulgarien und der Tschechoslowakei. Ein erster Schutzwall - die Fernwärmeversorgung der Stadt Greifswald durch das Kernkraftwerk - hielt nicht lange stand: Es sprach sich schnell herum, daß mobile Ölkessel dieses Problem kurzfristig lösen können. Die neueste Kabinettsvorlage zur Energiepolitik des zuständigen Ministers nennt eine sicherheitstechnische Nachrüstung der vier Greifswalder Reaktoren „volkswirtschaftlich nicht effektiv“. Sie sagt aber nichts zum Zeitpunkt der endgültigen Abschaltung und hält im übrigen am weiteren Ausbau der Kernenergie fest. Der Minister wird gehen, die Atomgemeinde wird bleiben und nach international bewährtem Muster prophezeien, daß ohne Atomenergie die Lichter ausgehen werden.
Klaus Traube
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen