: Spiel mit dem Feuer
Andreij Sinjawski über russische Nationalisten und Antisemitismus ■ D O K U M E N T A T I O N
Wir bekommen in Paris viel Besuch von Freunden aus der Sowjetunion - Schriftsteller, Künstler und Journalisten -, und jedesmal frage ich: 'Wer regiert die Sowjetunion? Und was wird morgen passieren?‘ Seit langer Zeit bekomme ich immer die gleiche Antwort: 'Das wissen wir nicht.‘
Man muß sich das klarmachen: Das in einem Land, in dem jahrzehntelang nichts passierte, wo ein Tag extakt dem anderen glich, und wo du die Zukunft für Jahre und kilometerweit voraussagen konntest: erst mal rechts, und dann wirst du in die Kommunistische Partei eintreten, vielleicht sogar einer von ganz oben werden; dann biegst du links ab, und nun nennen sie dich einen Dissidenten und stecken dich ins Gefängnis. Jetzt weiß dieses Land plötzlich nicht mehr, was nächste Woche passieren wird. Niemand auf der Welt weiß es.
Es brauchte gar nicht viel, um so weit zu kommen. Zuerst gewährte man den Leuten relative Redefreiheit. Zweitens gab man die Idee des globalen Kommunismus - für den so viele sinnlose Opfer erbracht wurden - auf. Oder besser, man vergaß die Idee für eine Weile. Der Boden erwies sich von Anfang an als äußerst fruchtbar. Aber auf ihm wachsen zur gleichen Zeit, da sich das Imperium wandelt, neue Gefahren: die der Xenophobie und der ethnischen Konflikte. Der Presse nach zu urteilen, sehe ich eine neue Form russischen Nazismus an Stärke gewinnen. Dessen Saat entfaltet sich in Reinkultur in einem Buch, das Igor Shafarewich in Moskau unter dem Titel Russophobia publizierte. Eine der Ideen Solschenizyns aufgreifend, entwickelt der Autor den Mythos vom Juden als dem ursprünglichen und eigentlichen Feind des russischen Volkes.
Igor Shafarewich ist ein weltberühmter Mathematiker, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, er ist Ehrenmitglied oder Professor mehrerer europäischer Akademien und Universitäten. Und dennoch stimmt die These seines Buches mit denen nationalsozialistischer Theoretiker des deutschen Faschismus von Hitler bis Rosenberg überein. Eine vielleicht unbewußte Übereinstimmung, doch es gibt Passagen von fast wörtlicher Nähe.
Alles ist wunderschön in akademischen Stil gekleidet, doch zusammengefaßt steht da: Ein kleines Volk, nämlich das der Juden (die Russophoben des Titels), treibe einen jahrhundertealten Krieg gegen die große Nation (in diesem Fall Rußland) nun zum tödlichen Finale: „Die russophobe Literatur ist stark von jüdisch-nationalistischen Gefühlen beeinflußt“, schreibt der Autor. Galitsch, Wysotzki, Kortschawin, Amalrik, Grossmann und Tarkowskij, Ilf und Petrow, Byalik und Babel werden als Russophobe aufgelistet. „Der typische Vertreter dieser Tendenz (und in diesem speziellen Fall ein Anti-Deutscher) war Heine.“
Noch andere Repräsentanten wollten Einfluß ausüben. „Der Einfluß Freuds als Denker, der Erfolg Schönbergs als Komponist, der Maler Picasso, der Schriftsteller Kafka oder der Dichter Brodskij“, sie alle arbeiteten an der „Zerstörung der religiösen und nationalen Fundamente unseres Lebens. Sie werden die erstbeste Gelegenheit ergreifen und mit gnadenloser Zielstrebigkeit unser nationales Geschick unterwandern. Das wird zu einer Katastrophe führen und danach wird unserem (dem russischen) Volk nichts mehr bleiben.“
Ich bin keinesfalls gegen die Veröffentlichung des Shafarewich-Buches. Schon gar nicht in Rußland, wo so lange Jahre keine Meinungsfreiheit herrschte. Nein, was mich mehr beunruhigt, ist die Stille, die das Erscheinen des Buches umgibt. Das Spiel Shafarewichs ist nicht etwa aufgrund der Ideen des Buches - sie sind trivial genug - gefährlich, sondern wegen des fruchtbaren Bodens, auf den sie fallen. Antisemitismus gibt es in der Sowjetunion bei Intellektuellen wie auch bei der Plebs. Das zeigt sich an zwei Ereignissen jüngeren Datums in Moskau. Einmal gab es da eine antisemitische Demonstration der Pamyat („Gedächtnis“)
-Bewegung auf dem Roten Platz - mit offizieller Genehmigung. Zum zweiten fand eine antisemitische Plenarsitzung des Verbandes der Schriftsteller der Russischen Föderation statt. Die Demonstration der Plebs endete mit einem Lied, dessen erste Strophe folgendermaßen lautet:
Erhebe dich, du große Nation
Erhebe dich und greife zum Schwer
Gegen die widerliche Allmacht der Jude
Gegen diese verfluchte Horde.
Unter den Sprechern der Plenarsitzung der russischen Intellektuellen waren Schriftsteller wie Valentin Rasputin und Vassily Bielow. Rasputin begleitete Gorbatschow nach China, Bielow war mit ihm nach Finnland gefahren. Nationalismus selbst ist keine ernstzunehmende Bedrohung er kann sogar einen Wert für ein Land darstellen. Bis allerdings jenes Nebenprodukt abfällt: „der Feind“. In der Vergangenheit der Sowjetunion war es der Kampf gegen den „Klassenfeind“, der immer heftiger wurde, je mehr man die Klassen liquidierte. Bis dann keine Klassen mehr übrigblieben.
Und jetzt haben die russischen Nationalisten, die sich selbst „Patrioten“ nennen, die Russophobie im Visier. Sieht man genau hin, ist das eine Modifikation der leninistisch -stalinistischen Idee der „bürgerlichen Einkesselung“ und der „bourgeoisen Penetration“. Der „Russophobe“, das ist eine Variante der schrecklichen stalinistischen Erfindung des „Volksfeindes“, des „ideologischen Saboteurs“.
Alle sind selbstverständlich Mythen. Doch mehr und mehr expandiert die Konnotation von „Russophobie“ in bedrohlichem Ausmaß. Beinhaltet sie doch nicht nur den „seelenlosen“ Westen, durch und durch vergiftet von Pornographie und Drogenabhängigkeit und dennoch nur von einem Wunsch beseelt, nämlich das russische Volk, diese Inkarnation menschlichen Gewissens, zu zerstören. Feinde lauern ferner unter Liberalen und Demokraten, Intellektuellen, Schwarzmarkt -Betreibern, Dissidenten und den Juden.
Ich finde beide Versionen - den alten Mythos der bourgeoisen Gefahr und die neue Version „Russophobie“ gleich abstoßend. Nicht nur, weil sie vulgär sind, sondern auch wegen des Hasses, der mitschwingt. Wenn das russische Volk sein Elend und sein Unglück den westlichen russophoben Feinden und den internen russophoben Feinden verdankt, wenn diese Feinde die Seele, das Fleisch und die Erinnerung der Nation, der russischen Kultur und des gesamten russischen Volkes zerstören wollen - warum dann nicht gleich kurzen Prozeß mit all den „Parasiten“, „Kosmopoliten“ und „Pluralisten“ machen?
In dem Moment, wo ein multinationales Reich zerfällt oder kurz davor ist auseinanderzudriften, blühen Nationalismen auf. Bei vielen Imperien markierte dies zugleich den Zerfall. Um das Sowjetreich zu schützen, entsteht momentan ein mächtiger, militanter russischer Nationalismus. So wie ich das von hier aus beurteilen kann, erscheint mir die UdSSR wie eine Garage voller Benzinfässer. Die Luft ist extrem geladen. In dieser hochexplosiven Atmosphäre spielen die russischen Nationalisten mit dem Feuer.
Warum sie das tun? Für ein national-religiöses Revival? Gott behüte uns. Und mag Christus uns vergeben, daß sein Name wieder einmal mit dem Drang nach Massakern und Pogromen in Verbindung gebracht wird.
Andreij Sinjawski, einer der bekanntesten sowjetischen Autoren, lehrt an der Pariser Sorbonne. Er wurde zusammen mit Yuli Daniel verurteilt, war von 1966-71 in einem Arbeitslager, bevor er 1973 nach Paris ging. Der Essay, den wir der britischen Tageszeitung 'The Guardian‘ (22.02.) entnahmen, ist aus dem Buch The State of Europe, Granta 30, New Europe! Penguin. Übersetzung: Andrea Seibel
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