Volk darf „VEB Deponie“ mitkontrollieren

In Schönberg, Standort der größten Müll- und Giftkippe Europas, diskutierten die Deponieverantwortlichen und der stellvertretende DDR-Umweltminister Hesse mit den BürgerInnen / Die Gefahren durch den Betrieb der Deponie sind bisher kaum untersucht worden  ■  Aus Schönberg Barbara Debus

Ein kleines, grenznahes Backstein-Städtchen im Mecklenburgischen. Bekannt nur für eines: die devisenbringende Sondermülldeponie „Schönberg“. Bei Nordwestwind riecht es hier nach Nagellackentferner. Seit 1981 brettern an Werktagen West-Lkws durch den Ort, ein dezentes „A“ an der Stoßstange warnt vor der Ladung: A wie „Abfall“.

Vor der Wende gehörte die Deponie zum abgeriegelten und völlig abgeschiedenen Grenzsperrgebiet und wurde von Soldaten bewacht. Die SchönbergerInnen selbst durften ihren Hausmüll nicht auf die große Deponie „auflegen“, sie mußten ihn, wie landesweit üblich, auf eine wilde Halde werfen. In Schönberg wird gegen Devisen mehr und giftigerer BRD -Sondermüll abgekippt als in der Bundesrepublik selbst. Auch der alte Teil der Deponie wird noch beschickt, obwohl nicht einmal eine Folie den Boden vor dem „Abfall“ schützt.

Aber was für „Abfall“ ist in den Lkws genau drin? Warum lagen 1988 sechs Kühe, die neben der Deponie weideten, plötzlich im Gras und streckten alle viere von sich? Ist das Trinkwasser schon verseucht? Am vergangen Freitag hatten die SchönbergerInnen erstmals und öffentlich Gelegenheit, ihre Fragen an den Funktionär zu bringen. Im Kultursaal waren 250 Menschen versammelt. Darunter auch westliche Aktivisten, die vor der Wende vorwiegend das Lübecker Trinkwasser in Gefahr gesehen hatten; einige schämen sich inzwischen für diese verengte Sichtweise.

Links vorne im Saal sitzen die DDR-Deponie-Verantwortlichen zum ersten Mal im Licht der Öffentlichkeit. Zu Beginn ruft der gut gelaunte Versammlungsleiter, Pfarrer Voß, die Mitglieder der wissenschaftlichen „Kontrollgruppe“ namentlich auf. Wie schüchterne Schulbuben und -mädchen erheben sich die angesprochenen ChemikerInnen und Ingenieure von ihren Stühlen.

Eine Lübeckerin schildert ihren Besuch der Deponie: „Nach 20 Minuten hatte ich Kopf- und Augenschmerzen. Mein Hals war noch zwei Tage später wund. Die Deponie gast schrecklich aus. Die Arbeiter werden schleichend vergiftet.“ Eine Bürgerin aus dem Nachbarort Selmsdorf besteht auf Vergangenheitsbewältigung: „Ich bin alter Selmsdorfer. Wir haben 15 Hektar in der Mülldeponie. Niemand hat damals gefragt: Frau Kühn, sind sie damit einverstanden, daß hier der Müll hingebracht wird? Heute, nach zehn Jahren, wollen sie mit uns zusammenarbeiten. Das ist nicht in Ordnung.“ Der stellvertretende DDR-Umweltminister Alfons Hesse winkt ab: „Ich bin nicht gekommen, um über moralische Dinge zu sprechen, die über zehn Jahre zurückliegen. Die Politbüromitglieder sitzen ein.“ Hesse plädiert dafür, die Zukunft der Deponie vertrauensvoll in die Hände einer deutsch-deutschen Expertenkommission zu legen, die von den beiden Umweltministern angeführt werden soll.

Das Politbüro, so berichten nach und nach die WissenschaftlerInnen aus der „Kontrollgruppe“, hätte 1978 den Auftrag gegeben, einen „Deponiestandort für die Verbringung von Bauschutt, Schlacken und Flugaschen“ ausfindig zu machen. Probebohrungen hatten die Geologen aus der „Kontrollgruppe“ jedoch erst gemacht, nachdem der Standort schon längst feststand. Ein „Kontrolleur“ drückt es so aus: „Damals gab es Dinge, die mit dem Gewissen abzumachen waren.“ Deponiedirektor Rudolf Kenner hat mit seinem Gewissen keine Probleme: Die Deponie werde von Anfang an nach den Gesetzen der DDR und damit rechtmäßig betrieben. Ähnlich der Chefchemiker der Deponie: Die Pharmazeutika, die abgelagert würden, seien nicht gefährlich: „Die Medikamente sind alle vom Menschen einnehmbar.“

Emissionen wurden bisher nur auf dem Deponiegelände gemessen, doch nach so gefährlichen Verbindungen wie Dioxin, Arsen oder Furan haben die ExpertInnen aus der DDR bisher noch gar nicht gefahndet. Nach diesem Geständnis schlägt vom Podium herab die Stunde des selbständigen Kieler Gutachters Dr.Gronemeyer. Er läßt durchblicken, daß sein Büro kürzlich von der Deponieleitung mit genaueren Untersuchungen beauftragt sei. Und er weiht die DDRlerInnen ein wenig in seine fortgeschrittenen West-Künste ein, berichtet von Instrumenten, alle aus „Edelstahl“, von „Labors auf höchstem technologischem Standard“ und von „mathematisch gestützter Analyse des Untergrunds“. Gutachter Gronemeyer schließt seine Belehrung mit den Worten: „Das sind nur einige wenige Punkte, wie das heute vonstatten geht.“

Je später der Abend, desto eindringlicher die Forderungen: Eine Teilnehmerin verlangt, daß die Deponie so lange geschlossen werde, bis Untersuchungsergebnisse vorlägen. Der stellvertretende Umweltminister Hesse wehrt ab: „Schönberg ist die sicherste Deponie der DDR.“ Gegenteilige Daten lägen bisher nicht vor. Christian Arndt vom Neuen Forum, Hauptorganisator der Versammlung, schlägt vor, in die „Kontrollgruppe“ Umweltschützer und Städteparlamentarier aus Lübeck und aus Schönberg aufzunehmen. Diplomchemikerin Dr. Marianne Montkowski, Chefin der Kontrollgruppe, macht schließlich ein Zugeständnis: Zwei Vertreter aus Schönberg würden aufgenommen. Mitglieder der „Kontrollgruppe“ versprechen, binnen drei Wochen ihre spärlichen Meßdaten zu veröffentlichen. Über die Ablagerungen in der Umgebung, auf Salatköpfen, Kühen und Menschen weiß die Kontrollgruppe allerdings nichts zu sagen, dort hatten sie bisher ja nicht gemessen. Den LübeckerInnen hatten sie schon auf einer anderen Veranstaltung erklärt, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen: Wenn, dann wären zuerst die Brunnen in Selmsdorf/DDR verseucht.