Litauens Ausstieg rückt näher

■ Stichwahl bringt Zweidrittelmehrheit für „Sajudis“ / Demokratische Kräfte liegen vorn

Berlin (dpa/afp/taz) - Bei den Wahlen zu dem Obersten Sowjet Rußlands, der Ukraine und Weißrußlands haben demokratische Kräfte große Erfolge verbuchen können. In Litauen macht das Wahlergebnis sogar den Ausstieg der Sowjetrepublik aus der Sowjetunion möglich. Bei den vorgezogenen Nachwahlen errang die für die Unabhängigkeit der Republik kämpfende Volksfrontbewegung „Sajudis“ 16 der 28 zu besetzenden Mandate hinzu und verfügt nun über 88 der 141 Abgeordneten im Obersten Sowjet der Republik. Da auch die von Moskau unabhängigen litauischen Kommunisten neun Sitze hinzugewannen und nun über 36 Sitze verfügen, stellen die für eine Unabhängigkeit der Republik eintretenden Abgeordneten weit über zwei Drittel der Mandate. Mit dieser Mehrheit kann eine Sitzung des Obersten Sowjet noch am Sonntag einberufen werden, der den Austritt aus der Sowjetunion beschließen kann. Die Nachwahlen wurden auf Initiative von Sajudis vorgezogen, um die Möglichkeit zu schaffen, den Volksdeputiertenkongreß in Moskau, der am nächsten Montag tagen wird, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auch in Estland wird für den nächsten Montag oder Dienstag mit einer Entscheidung für den Austritt aus der Sowjetunion gerechnet.

Bei den Wahlen am Sonntag erzielte der als radikaler Reformer eingeschätzte ehemalige Parteichef von Moskau, Boris Jelzin, wiederum einen großen Erfolg. In seinem Wahlkreis in Swerdlowsk, kann er mit mehr als 80 Prozent der Stimmen rechnen. Jelzin, der sich gegen elf Gegenkandidaten durchsetzte, hatte im Vorfeld der Wahl auch sein Interesse bekundet, Präsident der russischen Unionsrepublik zu werden. Diesen Posten hat derzeit das konservative Politbüromitglied Witali Worotnikow inne, der nach Angaben von 'Tass‘ ebenfalls mit über 71 Prozent der Stimmen in seinem Wahlkreis im Nord-Kaukasus bei einem Gegenkandidaten gewählt wurde. Auch der russische Regierungschef Alecxander Wlassow wurde in Jakutien gewählt. Nach inoffiziellen Teilergebnissen zeichnet sich aber eine günstige Tendenz für die Reformer ab. In Moskau haben viele Bewerber der im „Block Demokratisches Rußland“ zusammengeschlossenen Reformer die Stichwahlen erreicht, die am 18.März stattfinden sollen. Allerdings lag die Wahlbeteiligung in der Hauptstadt mit 65 Prozent unter dem Landesdurchschnitt.

In der weißrussischen Hauptstadt Minsk siegten bei hoher Wahlbeteiligung mehrere Vertreter der Volksfront dieser Republik, so der Archäologe Senon Posnjak. Er hatte sich bei der Parteiführung unbeliebt gemacht, als er vor eineinhalb Jahren auf ein Massengrab aus der Stalinzeit aufmerksam machte. Doch auch der weißrussische Parteichef Nikolai Sokolow, der in einem Wahlkreis ohne Gegenkandidat antrat, wurde auf Anhieb gewählt.

In der Ukraine muß nach Angaben der dort kandidierenden Volksfront „Ruch“ in 20 der 22 Wahlkreise eine zweite Runde eingelegt werden. Allerdings lagen nach ersten Angaben die Vertreter der Volksfront in 19 dieser Wahlkreise vorn. Der Vorsitzende von Ruch, Iwan Dratsch, konnte sich nach unbestätigten Berichten schon im ersten Durchgang durchsetzen.

Angesichts der Unabhängigkeitstendenzen in den baltischen Ländern hatte Michail Gorbatschow am Sonntag vor einer Spaltung der Sowjetunion gewarnt. Die Folgen wären schlimmer als die Kulturrevolution in China, sagte Gorbatschow nach der Stimmabgabe in Moskau vor Journalisten. Alle zwischennationalen Probleme müßten auf der Grundlage der Entwicklung und Umgestaltung der Föderation gelöst werden. Kommentar Seite 10