DIE WELT VERMESSEN

■ „Anklams Universum“ - Versuch einer immer schon gescheiterten Enzyklopädie in der Galerie „Bilderdienst“

Das erste, was man sieht, wenn man die Galerie betritt, sind Schiffe. Zeichnungen von allen möglichen Sorten Schiff: See -, Luft- und Raumschiffe; Containerschiffe und Flugzeuge, Kümos und Ballons, Raketen und Fregatten. Manchmal sind die Zeichungen nicht mehr als ein paar Zentimeter groß, ausgeschnitten und untereinander auf ein DINA4-Blatt geklebt, das in einer Klarsichthülle mit Löchern an der Seite steckt, um sie in Ordner einheften zu können. Selten gehen sie über zwei Seiten oder zeigen mehr als den Grund oder Aufriß eines Schiffes. Zwar besitzen die Zeichnungen nicht die kühle Professionalität, wie man sie von technischen Zeichnungen aus Ingenieurbüros kennt, sie sind aber auch nicht unbeholfen, verraten jedenfalls eine geübte Hand, die sich selbst ausgebildet und zu einer eigenen Form gefunden hat.

Was zuerst erscheint wie eine wahllose, chaotische Anhäufung von Schiffen, ohne Sinn und System auf das Blatt geworfen und aneinandergereiht, ist ein Ausschnitt aus dem geordneten Universum des Anklam. Anklams bürgerlicher Beruf ist Nachtwächter. Doch was ist der Broterwerb, wenn man eine Passion hat, mehr als das: eine Aufgabe zu bewältigen. Und Anklams selbstgestellte Aufgabe ist: die Welt der Dinge um ihn herum in ihrer ganzen totalität nicht nur zu sehen, sondern auch abzubilden, zu inventarisieren und katalogisieren. Ein Unterfangen, für das mehr als ein Leben zu kurz ist und mehr als ein Superspeicher eines Superrechners zu klein.

Eine Aufgabe also, an der Anklam notwendig scheitern muß denn wer kann ihn noch in den Blick bekommen, geschweige denn zurückübersetzen in ein einziges, durch eine Person laufendes Archiv, diesen ständig wachsenden, nie zur Ruhe kommenden und nicht zu kartographierenden Himalaya aus der wilden und uferlosen Produktion von Gütern und Informationen. Und selbst wenn man sich beschränkt auf wenige Ausläufer dieses Riesengebirges, wie Anklam es auch tut, der ja „nur“ alle, dafür aber wirklich alle Schiffe, die sich irgendwann und irgendwie mal durch Wasser, Luft oder Atmosphäre bewegten, zeichnen will und dazu noch: die Architektur der Städte, ihrer Gebäude und Straßen, Bohrtürme, Stadtpläne, Landkarten und Gestirne - selbst wenn man sich darauf beschränkt, bleibt dieses Unterfangen hoffnungslos und ist zum Scheitern verurteilt. Anklams Unternehmen ist absurd, doch da, wo Sisyphos wenigstens noch den Gipfel sah, bevor sich der Fels auf den Weg nach unten machte, da rollt Anklam einen immer größer werdenden Schneeball vor sich her, ohne den Gipfel zu sehen, geschweige denn je zu erreichen.

Dieser Ausschnitt aus der realen Welt, den Anklam wählt und sich zeichnend anzueignen und zu reproduzieren sucht, scheint wahllos und ist wohl auch nur aus seiner Person heraus zu erklären - so zeichnet er keine Autos, weil er in jungen Jahren einen Autounfall hatte und diesen Gefährten seitdem mißtrauisch gegenübersteht. Aber so wahllos der Ausschnitt ist, so systematisch geht Anklam darin vor. Er zeichnet nicht drauflos und legt die Blätter dann fort: er katalogisiert vielmehr, was er gezeichnet hat, und ist ein penibler Buchhalter seiner eigenen Produktion. Und auch diese Buchhaltung ist wohlüberlegt: In seinen Inventurlisten unterscheidet er die Luft- von den See- und Raumschiffen, die Seeschiffe unterteilt er wiederum in Handels- und Militärschiffe, und diese Abteilungen haben noch Unterabteilungen, in die die Zeichnungen eingetragen und abgelegt werden. Mit einer winzigen Schrift trägt er in die Archivblätter ein, was er wann gezeichnet hat und verliert so nie den Überblick.

In diesem Archiv ist ein Werk registriert, das über eine viertel Million Zeichnungen umfaßt. Soviel Bilder hat Anklam in seinem knapp fünfzigjährigen Leben hergestellt und hatte trotzdem noch Zeit, die dingliche Welt seines Horizonts tausende Male in Klarsichtfolien und Ordner zu überführen. Angefangen hat er damit im Alter von sieben Jahren. In der Galerie hängt eines dieser Kinderbilder aus den fünfziger Jahren, als Anklam begann, seine eigene Welt zu bauen: ein liniertes Blatt Papier, darauf krakelig mit Bleistift gezeichnet ein Luftschiff. Darunter, ein paar Jahre später, ist die Hand schon sicherer und das Luftschiff bunt. In Nähe dieser Bilder hängt ein Foto: Anklam Arm in Arm mit einem sowjetischen Kosmonauten - zwei entgegengesetzte Pole scheinen sich auf diesem Bild zu treffen. Da ist der Kosmonaut, der einer nicht mehr überschaubaren Welt den Rücken kehrt und in den Weltraum fliegt, und da der Zeichner, der sich die gleiche Welt anzueigenen versucht, indem er sie bruchstückhaft reproduziert und in einen eigenen Kosmos überführt - schwer zu sagen, wer verrückter ist.

Denn dem anklamschen Unternehmen haftet schon etwas von Wahn an, jedenfalls ist da ein Tick, der die Person im Griff hat. Doch einer von der Art, der sich mit der weiten Ebene des Realitätsprinzips verträgt, verschaltbar ist mit den Gesetzen des Zusammenlebens. Andersherum gesagt ist der Vorgang, mit dem sich Anklam der Außenwelt nähert, diesem ganzen überbordenden Wirrwarr, als das sich die Welt dem Einzelnen darstellt, nicht unähnlich einer normalen und alltäglichen Praxis. Es ist ein Versuch, der undurchschaubaren und unsinnigen Welt einen eigenen und sicheren Raum entgegenzustellen, ihr einen Kiez abzuringen oder in ihr einen Claim abzustecken. Nur tut Anklam mehr, als einen dieser Splitter, in die die Zusammenhänge zerbrochen sind, zu besetzen und zu speichern, wie es etwa die Vielen gewohnt sind, die sich jede 'Auto-Motor-Sport‘ holen und jedes Modell bis unter die Zylinderhaube auswendig kennen. Seine zeichnerische Erfassung der Welt ist der Versuch, die vereinzelten Splitter wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen und damit überschaubar zu machen.

Dabei stellt sich nicht die Frage der Kunst. Von sich selber soll Anklam hin und wieder sagen, er sei der neue Leonardo da Vinci. Andere meinen, seine Zeichnungen seien eine moderne Sonderform der naiven Kunst. Und der Galerist berichtet, daß ganz besonders Kinder fasziniert sind von Anklams Universum - wahrscheinlich sind sie angetan von seiner Kinderschrift, perfektioniert und bis kurz vor die Rente gerettet. Auf alle Fälle aber gilt für Anklam einer dieser tollen professionellen Kritikersätze, wie man sie nur in der 'Zeit‘ findet: „Er ist ein Held, einer der tragischen, übermenschlich zähen, die trotz aller Erfahrung und wider alle Vernunft nie aufgeben.“ Denn so sind die Helden von heute: Sie arbeiten als Nachtwächter und stehen sehr windschief-schräg in einer Welt, die ihre Abenteurer in technische Apparate steckt und zum Mond schießt.

Volker Heise

„Anklams Universum“ bis zum 17.3. in der Galerie „Bilderdienst“, Pariser Straße 51, Mo-Fr 16-19, Sa 10-14 Uhr.