„Sie fühlen sich nirgendwo zugehörig“

■ Interview mit dem Vorsitzenden des Türkischen Elternvereins, Kezim Aydin, über Jugendbanden in Berlin

taz: Die Tatsache, daß es Jugendbanden gibt, ist plötzlich in aller Munde. Wie erklären Sie sich den Zuwachs dieser Gruppen.

Aydin: Die Banden sind ja nicht plötzlich wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Das war eine Abwehrreaktion gegen Ausländerfeindlichkeit und speziell gegen den Aufstieg der „Republikaner“. Davon abgesehen wachsen diese Jugendlichen in einem schlechten sozialen Umfeld auf. Es gibt keine oder nur wenige soziale und kulturelle Möglichkkeiten, sich frei und ohne Druck zu entfalten. Die Wohnsituation ihrer Familien ist enorm eng, es fehlen Sportanlagen, Freizeitheime, Cafes etc. Zweitens halten wir vom Elternverein das sehr schlechte Bildungsniveau dieser Jugendlichen für einen zentralen Punkt. Diese Kriminalität, die sich jetzt zeigt, ist auch das Resultat einer Schulmisere für ausländische Kinder und Jugendliche. Die sind einfach übersehen worden. Diese Jugendlichen haben keine Zukunftsaussichten. Sie fühlen sich nirgendwo zugehörig. Und schließlich - und das ist sehr wichtig - ist es Ausländern bis heute nicht möglich, frei zu entscheiden, daß man endgültig hier bleiben möchte. Das ist eine Konstante der Angst, die nicht gerade dazu führt, daß man sich hier besonders wohl fühlt. Es verstärkt bei den Jugendlichen das Gefühl, in einem Konflikt zwischen zwei Kulturen zu stecken. Sie wissen, sie gelten hier nichts, wollen sich beweisen und schließen sich diesen Gruppen an.

Wie reagieren denn Eltern, wenn sie erfahren, daß ihr Sohn Mitglied der „Giants“ oder „36 Boys“ ist?

Die wissen das oft gar nicht. Die Herren Söhne kommen ja oft tagelang nicht nach Hause. Die Eltern wissen meist nicht, wo der dann geblieben ist. Was mich dabei enorm stört, ist die riesige Zahl von Spielhallen und Kneipen, wo diese Kinder herumhängen, anstatt in der Schule zu sitzen. Ich weiß, daß auch in türkischen Kneipen schon am Morgen acht- oder zehnjährige Kinder sitzen. Ich frage mich, was die da zu suchen haben.

Was würden Sie tun, wenn Sie im Senat an zuständiger Stelle säßen?

Eine andere Schulpolitik betreiben. Das fordern wir seit Jahren. Diese Kinder müssen einen Schulalltag haben, der ihnen vermittelt, wer sie sind, damit sie überhaupt eine Identität bilden können. Genau das fehlt ihnen. Wir brauchen eine interkulturelle Erziehung in den Schulen - dazu gehört auch und vor allem zweisprachiger Unterricht.

Für die Jugendlichen, um die es jetzt geht, kommt das aber zu spät.

Es gibt von unserer Seite jede Menge konkreter Vorschläge, die wir auch den zuständigen Stellen vorlegen werden. Wir bestehen zum Beispiel darauf, daß in den Freizeitheimen, Cafes und Discos auch ausländische Sozialarbeiter und Betreuer eingestellt werden. Damit sollte man auch sofort anfangen in Einrichtungen, die neu eröffnet werden. Außerdem muß das Hausverbot für diese Jugendlichen in den Freizeitheimen wieder aufgehoben werden. Das ist nun überhaupt keine Lösung.

Die Jugendlichen haben sich auch als Reaktion gegen die „Republikaner“ zusammengeschlossen. Ebendiese „Republikaner“ greifen das Thema jetzt genüßlich auf, um die Ausländerfeindlichkeit anzuheizen. Aus diesem Grund haben viele linke Gruppen und auch der Senat offenbar Berührungsängste. Wie verhält sich der Türkische Elternverein in einer solchen Situation?

Wir sind da auf die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Parteien wie der SPD und der AL angewiesen. Alleine haben wir ja kaum Möglichkeiten, uns gegen solche Hetze zu wehren. Man muß ja immer wieder daran erinnern, daß wir weder Wahl noch Niederlassungsrecht haben. Allerdings erwarten wir zur Zeit nicht allzuviel vom Senat.

Interview: Andrea Böhm

Der „Türkische Elternverein“ lädt heute abend um 18.30 Uhr zu einer Podiumsdiskussion über Jugendbanden ein. Es diskutieren unter anderem die Ausländerbeauftragte Barbara John, Vertreter der Parteien, Gewerkschaften der Polizei, des Elternvereins und des Bundes der Psychosozialen Fachkräfte aus der Türkei. Ort: Oranienstraße 34, 1/36.