Gleichheit der Würde

Zur Kritik am Liberalismus in der Verfassungsdiskussion der DDR  ■ K O M M EN T A R

In ihrem großen verfassungsgeschichtlichen Werk On Revolution hat Hannah Arendt den Traum der amerikanischen Verfassungsväter nachgeträumt, dereinst im Olymp mit ihren griechischen und römischen Kollegen unbeschwert über die beste Einrichtung des politischen Gemeinwesens zu debattieren. Nur zu gut wußte Hannah Arendt, daß in der geschichtlichen Wirklichkeit das Projekt der Freiheitsbegründung oftmals unter den übermächtigen Druck sozialer Probleme gerät. Nicht anders geht es den Demokraten in der DDR, die jetzt Elemente eines Verfassungsentwurfs erarbeitet haben. Es bleiben ihnen nur wenige Wochen, um eine Selbstverständigung der DDR-Bürger über die Prinzipien zu erzielen, die sie in die gemeindeutsche Verfassungsdebatte einbringen wollen - sofern nicht der Anschluß nach Art.23 alles überrollt. In seinem Interview mit der taz zielt der Kirchenrechtler Wolfgang Ullmann ins Zentrum des ganzen Komplexes mit seiner These, daß das Grundgesetz den politischen Liberalismus des 19.Jahrhunderts widerspiegele, einer Doktrin, die sich als blind erwiesen habe gegenüber den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts. Die besondere Qualität einer DDR-Verfassung müsse sich gerade darin zeigen, wie sie die totalitäre Erfahrung aufnimmt.

Gegenüber dem Grundgesetz kann man zahlreiche Einwendungen erheben, nur gerade nicht den, es habe die Erfahrungen des Nazifaschismus nicht reflektiert. Die besten wie die schlechtesten Seiten der Verfassung sind gerade das Produkt dieser Auseinandersetzung. Einerseits der kraß antiplebeszitäre Grundzug und die Verweise auf ein angeblich den Verfassungsnormen vorgelagertes unverrückbares Sittengesetz. Andererseits die unmittelbare Geltung der Grundrechte, die in ihrem Kern nicht eingeschränkt werden dürfen, und die ebenso unmittelbare Rechtswirksamkeit internationaler Abkommen. Gerade hier ist das Grundgesetz modern, weil es die Ebene des Nationalstaats transzendiert. Ullmanns Kritik am Liberalismus ist einseitig. Die nur negative Fassung der Freiheitsrechte, die nur formal verstandene Gleichheit vor dem Gesetz schließlich die Identifikation von parlamentarischer Demokratie und Nationalstaat lassen sich natürlich leicht kritisieren. So gesehen ist der Liberalismus lediglich Ausdruck bürgerlicher Herrschaft. Allzu schnell haben sich die progressiven Intellektuellen in der DDR innerhalb und außerhalb der SED mit „Erledigungen“ dieser Art beruhigt. Aber im Liberalismus ist auch eine Tradition lebendig, die man mit Janos Kis als Gleichheit menschlicher Würde charakterisieren könnte. Nach Kis ist die moralische Gemeinschaft, der jeder Bürger angehört, der soziale Raum, in dem Grundrechte entstehen, sich verändern, verwirklicht werden. Nicht umsonst sind die Demokratiebewegungen in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion unter dem doppelten Signum der Würde und der Solidarität angetreten, das heißt, sie verbinden einen radikalen, positiven Freiheitsbegriff mit Vertrauen ins Kollektiv.

Die bei Intellektuellen in der DDR virulente Kritik des Liberalismus verfehlt auch eine Komponente liberalen Denkens, die die heroische, antiabsolutistische Epoche der Doktrin prägte: die Idee des Gesellschaftsvertrags.

In der frühen liberalen Theorie war dieser Vertrag eine Fiktion, mit der der Anspruch der Bürger begründet wurde, Quelle aller Staatsautorität zu sein. Die Idee des Gesellschaftsvertrages läßt sich heute höchst praktisch als Grundlage einer Verfassungsdiskussion in beiden deutschen Staaten verwenden. Der Verfassung liegen eben keine naturrechtlichen Prinzipien zugrunde, sondern gesellschaftliche Standards, auf deren Geltung die Bürger sich einigen. Erst eine Diskussion über diese Standards würde zutage fördern, ob die Menschen in der DDR sich nur in einem Prozeß nachholender demokratischer Entwicklung befinden, oder ob sie nicht mit uns gemeinsam auf den Umbruch reagieren müssen, der alle Industriegesellschaften erschüttert. Das Recht auf Arbeit wäre dann z.B. nicht als eine Verfassungsnorm zu interpretieren, die die DDR -Identität herüberrettet, sondern sie wäre der verfassungsmäßige Ausdruck eines Gesellschaftsvertrags, in der der Standard „Arbeit“ eine neue Bestimmung erfahren hätte. Die subversiven Folgen eines solchen Vorgehens sollten auch den Verächtern des Liberalismus in der DDR einsichtig sein.

Christian Semler