Ungarns Parteien zeigen immer noch kein Profil

50 Parteien kandidieren für die Parlamentswahlen am 25. März / Einig sind fast alle in ihrer Ausrichtung an der Marktwirtschaft / Die drohende Verarmung breiter Bevölkerungsteile könnte Hungerrevolten hervorbringen / Keine Rezepte zur Vermeidung der Misere  ■  Aus Budapest Antje Bauer

Damen in Pelz und distinguierte ältere Herren drängen sich an den Fenstern der altehrwürdigen Konditorei Gerbeaud und betrachten neugierig den Zug, der sich durch das vornehme Geschäftsviertel im Zentrum Budapests bewegt. Gedrungene Männer mit hohen schwarzen Pelzmützen und stämmige kleine Frauen, die für einen eventuellen Einkauf eine Tasche mit sich führen, stiefeln durch die feine „Straße der Volksrepublik“. Sie sind dem Ruf der „Unabhängigen Partei der Kleinen Landwirte“ gefolgt, um hier gegen den Verkauf von staatlichen Ländereien zu protestieren. Die Partei fordert ein Verkaufsmoratorium bis nach den Parlamentswahlen; danach will sie den Kleinbauern das vor fünfundvierzig Jahren verstaatlichte Land zurückerstatten.

Im Vörösmarty-Kino sind alle Plätze besetzt. Es spricht Miklos Haraszti, Schriftsteller und Dissident während des kommunistischen Regimes, heute Kandidat der „Föderation Freier Demokraten“ (SzdSz). Vor einem Publikum in Sonntagsstaat und Kordhosen fordert Haraszti eine Liberalisierung der ungarischen Wirtschaft und die Demokratisierung der Gesellschaft, sowie den Ausschluß der Kommunisten von der Macht. Am Ausgang verabschiedet ein charmanter älterer Herr die Gäste.

In ihrem Parteilokal in einem Hinterhof des grauen VIII. Budapester Bezirks streiten die Grünen. Es geht um die Infiltrierung der Umweltpartei durch Kommunisten; eine hagere ältere Frau wehrt Unbefugte am Eingang ab.

Staatsminister Imre Pozsgay, Führungsmitglied der (reformerischen) Ungarischen Sozialistischen Partei (USP) warnt unterdessen auf einer Wahlveranstaltung vor einer „Balkanisierung“ des Landes, falls die USP aus der Legislative verdrängt werde und Karoly Grosz, Mitglied der orthodoxen „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“ (USAP) wirft seinen politischen Gegnern vor, den Übergang zum Kapitalismus anzustreben.

Szenen aus dem Wahlkampf in Ungarn zu den ersten freien Parlamentswahlen am 25.März. Etwa 50 Parteien kandidieren, der Überblick ist längst verloren und die Parteienmüdigkeit wächst. Selbst die Unterschiede zwischen den großen Parteien, die das Rennen unter sich entscheiden werden, zeichnen sich erst langsam ab. „Wir unterscheiden uns von den anderen Parteien dadurch, daß wir entschiedener auf eine Marktwirtschaft zustreben“, erklärt Miklos Haraszti von der SzdSz. Die Gruppierung, die von der bundesdeutschen FDP unterstützt wird, und in Ungarn als Hort der urbanen Intelligenz gilt, befürwortet einen möglichst schnellen Beitritt Ungarns zur EG und ist bereit, für eine rasche Umstellung der Wirtschaft auf kapitalistische Erfordernisse auch ein ebenso schnelles Ansteigen der Arbeitslosigkeit und der Armut in Kauf zu nehmen. Um diesen harten Kurs durchsetzen zu können, befürwortet Haraszti eine Koalition mit den beiden anderen großen Parteien, dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) und der „Unabhängigen Partei der Kleinen Landwirte“. Eine Koalition mit einem der beiden Erben der KP Ungarns schließt er aus.

Der MDF, 1987 als Forum der Opposition gegründet, hat heute Schwierigkeiten, als Partei ein eigenes Profil zu erarbeiten. Von den Reformkommunisten unterstützt, zeigt der MDF am wenigsten Abneigung gegen eine künftige Zusammenarbeit mit den ehemaligen Machthabern. Doch diese stärkste aller Gruppierungen, die nach Wahlprognosen mit über 20 Prozent der Stimmen rechnen kann, zerfällt in zwei Flügel: einen eher europäisch und marktwirtschaftlich orientierten und einen konservativen, der Angst vor einem „Ausverkauf Ungarns ans Ausland“ artikuliert, stark auf die Landbevölkerung setzt und sich gelegentlich durch antisemitische Tiraden hervortut.

Die „Unabhängige Partei der Kleinen Landwirte“ ist erst vor kurzem neu gegründet worden, zeigt sich aber optimistisch, bald wieder die Stärke zu erlangen, die sie vor der kommunistischen Machtübernahme hatte. Bei den letzten nicht manipulierten Parlamentswahlen 1945 hatte sie die absolute Mehrheit erhalten. Sie versteht sich - heute wie früher als Vertreterin der ungarischen katholischen Landbevölkerung. Politisch sticht sie vor allem durch ihre Forderung hervor, das Land wieder seinen ehemaligen Eigentümern zurückzugeben, was jedoch selbst unter den Bauern umstritten ist. Die Frage, wie Ungarn nach dem auch von dieser Partei geforderten EG-Beitritt mit den zu erwartenden Absatzschwierigkeiten für Agrarprodukte umgehen will, beantwortet der Vizegeneralsekretär Dragon Pal, ein freundlicher junger Bauer, mit Hinweisen auf den Hunger in der Welt und den japanischen Nahrungsmittelbedarf. Das Parteiprogramm sei noch nicht sehr ausgereift, deutet er an, die Neugründung liege erst wenige Monate zurück.

Klare Vorstellungen darüber, wie nach den Wahlen mit der ungarischen Wirtschaft umzugehen sei, hat keine Partei, auch die ehemaligen Reformkommunisten nicht, die sich heute „Sozialistische Partei“ nennen und von der SPD unterstützt werden. Die SP befürwortet einen „Dritten Weg“, dessen Stationen sie aber noch nicht beschreiben kann. Dennoch rechnet sie damit, aus den Wahlen als eine der stärksten Parteien hervorzugehen.

Die Perspektivlosigkeit einerseits und die zunehmende Verarmung andererseits haben inzwischen bei Teilen der Bevölkerung gute Erinnerungen an den Kadarismus geweckt, die sich wie Beobachter mutmaßen, in einer Stärkung der Altkommunisten, der USAP, ausdrücken könnte. Die wirtschaftliche Situation hat sich in den letzten Jahren nicht eben verbessert. Die Inflation, die bereits 1988 15,7 Prozent betrug, wird für dieses Jahr auf mindestens 20 Prozent veranschlagt. Der Durchschnittslohn liegt bei sieben bis zehntausend Forint (180 bis 270 DM) - so viel kostet in Budapest häufig die Miete einer Wohnung.

In den Geschäften ist zwar alles zu haben, aber nur wenige können es sich leisten. In den ärmeren Stadtvierteln, wo die Balkons zur Straße durch Holzpfosten am Herunterkrachen gehindert werden, fischen armselige Alte in Mülltonnen nach Brauchbarem. „Der soziale Neid wächst“, erklärt ein Redakteur der Intellektuellen-Zeitung 'Magyar Nemzet‘, für deren Übernahme sich die 'FAZ‘ interessiert. „Der Westen ist nicht darauf vorbereitet, daß es Hungerrevolten geben könnte. Aber das ist hier nicht auszuschließen.“