Bundesregierung informiert über Abzug von US-Giftgas

Abzug von Chemiewaffen: Geheimniskrämerei soll teilweise beendet werden / Heute sollen Parlamente und Bevölkerung über Abzugsmodalitäten informiert werden / Menge und Zustand der Kampfstoffe bleiben wahrscheinlich weiterhin geheim / Hat Bundesregierung am 18. Oktober das Parlament belogen?  ■  Von Andreas Zumach

Heute soll die jahrzehntelange Geheimniskrämerei wenigstens zum Teil ein Ende haben: ab elf Uhr wird der Verteidigungsausschuß des Bundestages - zeitgleich mit dem Innenausschuß des rheinland-pfälzischen Landtages - über Einzelheiten des Abzugs der US-Chemiewaffen aus der BRD unterrichtet. Unabhängige Experten vermuten, daß die Waffen in einem Lager in Clausen bei Pirmasens gebunkert sind. Nach bisherigen Informationen soll der Abzug im Sommer dieses Jahres beginnen. Heute nachmittag werden Kommunalpolitiker aus der betroffenen Region in der Kreisverwaltung Pirmasens durch Vertreter der Hardthöhe, des Mainzer Innenministeriums sowie des US-Militärs informiert. In der Turnhalle von Clausen ist für morgen, 19 Uhr eine Informationsveranstaltung für die Bevölkerung vorgesehen. Ebenfalls morgen will das US-Militär in seiner Pirmasenser Kaserne interessierten Journalisten Details des Abzugs erläutern. Nach bisherigen Informationen soll der Abzug von Clausen über die Straße bis zum US-Munitionsdepot Bruchmühlbach-Miesau und ab da mit der Eisenbahn zum Hafen Nordenham erfolgen. Von dort soll die gefährliche Fracht per Schiff zur Zwischenlagerung und späteren Vernichtung auf das Pazifik-Atoll Johnston-Island transportiert werden. Noch offen ist, ob die Informationen sich auf Abzugsmodalitäten beschränken werden oder auch Angaben über genaue Menge und Zustand der chemischen Kampfstoffe gemacht werden. Verschiedene Bürgerinitiativen haben in der Vergangenheit immer wieder dagegen protestiert, daß die Vorbereitungen zum Abzug unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne Anhörung der Betroffenen oder externer Gutachter über die Bühne gehen soll. Sie befürchten, daß die USA die Kosten für den Abzug des Giftgases zuungunsten der Sicherheitsvorkehrungen drücken wollen. In den USA selbst war nach umfangreichen öffentlichen Anhörungen im Umfeld der Giftgaslagerorte letztlich entschieden worden, die Vernichtung vor Ort durchzuführen, da ein Transport zu riskant sei. In der Bundesrepublik werden die Giftgaszüge dagegen durch dichtbesiedeltes Gebiet rollen, ohne daß bisher überhaupt Informationen über die Sicherheitsvorkehrungen existieren.

Abgeordnete der Bonner Opposition erwarten, daß die Bundesregierung bei ihrer Unterrichtung des Verteidigungsausschusses zumindest einige Fragen und Widersprüche aufklärt, die seit der letzten C-Waffen -Unterrichtung dieses Gremiums am 18. Oktober letzten Jahres aufgetreten sind.

Parlamentsausschuß

desinformiert

Der Abrüstungsbeauftragte der Koalition, Botschafter Holik, sowie ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter hatten dem von Egon Bahr (SPD) geleiteten Unterausschuß „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ damals in einer für vertraulich erklärten Sitzung „gesicherte Erkenntnisse“ aus dem August 89 vorgelegt, wonach die Sowjetunion 26.700 Tonnen chemischer Kampfstoffe in 13 Depots auf den Territorien der DDR, CSSR, Ungarns und Polens lagere. Nach Veröffentlichung dieses Vorgangs in der taz (24.10.89) hatte die Regierung in Moskau diese Behauptungen entschieden dementiert. Bonns „gesicherte Erkenntnisse“ standen im Gegensatz zu völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen der vier osteuropäischen Staaten vor der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz, wonach auf ihren Territorien keine chemischen Kampfstoffe gelagert sind. Moskau hat vor diesem Gremium und bei anderen Gelegenheiten zu Protokoll gegeben, keine C-Waffen außerhalb der UdSSR zu lagern. Auf die Frage von Abgeordneten, warum Bonn die „gesicherten Erkenntnisse“ nicht gegenüber Moskau oder vor der UNO-Abrüstungskonferenz zur Sprache bringe, antwortete Botschafter Holik damals im Unterausschuß, man habe einen Eklat vermeiden wollen. Ob es sich bei den am 18.Oktober verbreiteten „gesicherten Erkenntnissen“ um eigene bundesdeutscher Geheimdienste oder um von US-Diensten übernommene handelte, ist nach wie vor ungeklärt. Ihre Verbreitung im Bonner Parlamentsausschuß erfolgte drei Wochen, nachdem die Außenminister Baker und Schewardnadse am 27.September in Wyoming den - Ende Dezember abgeschlossenen

-Austausch von Informationen über 98 Prozent C-Waffen -Vorräte vereinbart hatten. Auf die Ausklammerung der restlichen 2 Prozent hatte Washington ausdrücklich bestanden. In der Sitzung vom 18.Oktober erklärte Botschafter Holik, die Vorräte in der Pfalz machten weniger als 2 Prozent aller US-Chemiewaffen aus und seien damit von dem Datenaustausch nicht betroffen. Mit den „gesicherten Erkenntnissen“ über sowjetische C-Waffen auf Bündnisterritorien sollte offensichtlich der Eindruck erweckt werden, auch Moskau habe etwas zu verbergen und sei deshalb ebenfalls an der Ausklammerung von 2 Prozent interessiert. Tatsächlich hatte die UdSSR in den Verhandlungen mit Washington jedoch auf 100prozentige Glasnost gedrungen und - vergeblich - eine Inspektion der Territorien aller sechs Bündnisstaaten durch US-Experten angeboten. Die Darstellung, in der Pfalz lagerten unter 2 Prozent aller US-Chemiewaffen, ist von kompetenter US-Quelle erneut in Frage gestellt worden: in der vergangenen Woche erklärte ein Sprecher der US-Armee in Washington gegenüber 'dpa‘, in der BRD befänden sich 6,6 Prozent aller US -Bestände. Dieselbe Angabe hatte im September 1989 der Rechnungshof des US-Kongresses (General Accounting Office) gemacht.